Entgegen den Erwartungen der Leiterin der Landesarchäologie Bremen sind auf dem "Russenfriedhof" in Bremen-Oslebshausen nun neun vollständige Skelette gefunden worden. Schon anhand der bisherigen Funde (1 Schädel, 70 Erkennungsmarken, viele Knochenfunde) war für die die Bürgerinitiative "Oslebshausen und Umzu" und das Bremer Friedensforum der Schluss zwingend, dass die damalige Exhumierung und Umbettung der Leichen im Jahre 1948 unvollständig war und das Areal deshalb seinen Charakter als Kriegsgräberstätte niemals verloren hat. Der Bürgermeister, Andreas Bovenschulte, stellt in seiner jüngsten Presseerklärung vom 17. Januar 2022 erneut klar, dass "alleiniger Maßstab" für die Entscheidung, das Projekt einer Bahnwerkstatt von Alstom weiter zu verfolgen, "die Gewährleistung eines würdevollen Gedenkens an die Toten unter Berücksichtigung der Vorgaben des Kriegsgräberrechts" ist. Aber was das heißt, bleibt weiterhin unklar.
Folgende Fragen müssen dringend untersucht und geklärt werden.
1. Wenn die Exhumierung und anschließende Umbettung auf den Osterholzer Friedhof unvollständig war – wie ist der Status des "Russenfriedhofs" nach internationalem Kriegsgräberrecht zu bestimmen? Die jetzigen Funde von neun vollständigen Skeletten durch die Archäologie Bremen machen endgültig deutlich, dass nicht mehr nur von "wenigen, beim Transport bei der Umbettung heruntergefallenen Leichenteilen" die Rede sein kann.
2. Laut verschiedenen Dokumenten sind auf dem Areal des "Russenfriedhofs" seinerzeit mehr als 800 zu Tode gekommene Zwangsarbeiter bzw. Kriegsgefangene aus verschiedenen Nationen begraben worden. Auf dem Osterholzer Friedhof sind aber nur 446 Tote 1948 umgebettet worden. Der Verbleib von mindestens 300 Leichen ist also nach wie vor völlig ungeklärt.
3. Die Archäologie Bremen als Bremische Behörde hat beschlossen, die Suche auf ein Areal von ca. 3500 Quadratmetern zu begrenzen. Es existieren aber viele Hinweise darauf, dass auch Bestattungen auf einem weit größeren Areal vorgenommen wurden. Hier sind nur einige stichprobenartige Grabungen vorgenommen worden. Die Stichproben können auf keinen Fall eine gründliche Untersuchung ersetzen.
4. Es ist der Bürgerinitiative "Oslebshausen und Umzu" und dem Bremer Friedensforum zu verdanken, dass die nach wie vor fortdauernde Existenz des "Russenfriedhofs" überhaupt an die Öffentlichkeit (es gab ein bundesweites Medienecho) gekommen ist. Dazu waren umfangreiche eigene Recherchen notwendig. Außerdem haben die Geschichtsforscher Harry Winkel und Peter-Michael Meiners der BI ihre Erkenntnisse aus jahrelanger Forschung über Zahl, Umfang und Lage des Zwangsarbeiter-Lager-System in Bremen-Nord zur Verfügung gestellt. Zusätzlich hat die BI zwei juristische Gutachten aus den Universitäten Leiden (Niederlade) und Gießen eingeholt, die die komplizierten Fragen des Völker- und Kriegsgräberrechts analysieren.
5. In den Behörden (Senat für Wissenschaft und Häfen, Senat für Bau und Umwelt, Bremenports – Hafenbetriebsgesellschaft) war die Existenz eines "Russenfriedhofs" offenbar völlig vergessen bzw. verdrängt worden. Die jetzigen Ausgrabungen auf dem Areal sind nur aufgrund der fundierten Hinweise der BI und des Friedensforums in Angriff genommen worden. Und es ist Frau Prof. Uta Halle, der Leiterin der Archäologie Bremen, und ihrem Team hoch anzurechnen, dass sie die Untersuchungen allein nach wissenschaftlichen Kriterien durchzuführen gedenken und es ablehnen, sich auf eine bestimmte Zeitdauer der Grabungen festzulegen. "Es dauert solange, wie es dauert!" - das war die wiederholte Antwort auf entsprechende Fragen.
6. Hätte es die jetzigen Grabungen nicht gegeben, wäre vermutlich folgendes passiert: alle baurechtlichen Voraussetzungen für den Bau der Bahnwerkstatt wären getroffen und die Bauarbeiten begonnen worden. Jeder weiß: bei Erdbewegungen mit großen Maschinen können keine gründlichen Untersuchungen im Boden mehr stattfinden. Und wenn etwas gefunden wird, muss der verantwortliche Polier oder Bauleiter den Mut und die Konsequenz aufbringen, angesichts riesiger Folgekosten einen eventuellen Knochenfund auch zu melden und damit den gesamten Bau evtl. für Jahre zu stoppen.
7. Bisher haben die zuständigen Behörden die Vorschläge, Eingaben und Petitionen der zivilgesellschaftlichen Organisationen nur mit Missachtung gestraft. Niemals ist eine Antwort gekommen; niemals ist ein Gespräch gesucht worden. Es ist allein dem Druck der kritischen Öffentlichkeit zu verdanken, dass das komplexe Thema überhaupt aufgegriffen und die Generalkonsulate der russischen Föderation und der Ukraine über die strittige Kriegsgräberstätte in Bremen in Kenntnis gesetzt worden sind. Der Fall wird in den beiden Ländern mit großem Interesse verfolgt, wobei nach wie vor unklar ist, ob die anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion ebenfalls informiert worden sind.
8. Der Bremer Senat, namentlich der Bürgermeister Andreas Bovenschulte, vertritt in seinen letzten öffentlichen Äußerungen unverändert die Auffassung, dass die Exhumierungen und Umbettungen, die 1948 stattfanden, vollständig waren. Dass also das Areal an der Reitbrake damals schon seine Eigenschaft als Kriegsgräberstätte im Sinne des Völkerrechts verloren habe. Die bisher erfolgten Funde von Leichenteilen, Erkennungsmarken und jetzt vollständigen Skeletten sind für ihn bisher kein Anlass gewesen, diese Position zu überdenken oder gar auf die Gespächsangebote der BI und des Friedensforum einzugehen.
9. Der Senat und der Bürgermeister können und dürfen diese Frage einer Bebauung der Kriegsgräberstätte auf der Reitbrake nicht in eigener und arroganter Machtvollkommenheit entscheiden. Sie sind befangen. Wegen starker politischer und ökonomischer Interessen und vor allem wegen früherer Festlegungen. Deshalb muss die Forderung der BI und des Bremer Friedensforums endlich ernst genommen werden: nur eine unabhängige Expertenkommission wird in der Lage sein - auf wissenschaftlicher Grundlage -, die strittigen Fragen in diesem komplexen Fall klären. Der Senat und die ihn tragenden Parteien SPD, Grüne und Linke sollten endlich den zivilgesellschaftlichen Organisationen in Bremen-Nord den nötigen Respekt erweisen und mit ihnen auf Augenhöhe in einen wirklichen Dialog eintreten. Merke: nur allzu oft schon haben zivilgesellschaftliche Organisationen in der Gesellschaft Missstände aufgedeckt und die Behörden dazu gebracht, von ihren vorgefassten Meinungen abzurücken und den Bürgerinnen und Bürgern Gehör zu schenken. Dafür gibt es schließlich auch in Bremen viele Beispiele.
10. Der Streit um den "Russenfriedhof" hat nicht zuletzt auch eine moralische Dimension. Das Unternehmen Alstom ist nach mehreren Eigentümerwechseln heute Rechtsnachfolgerin der Linke-Hofmann-Werke. Diese haben während der Nazi-Zeit selber Zwangsarbeiter aus dem KZ Groß-Rosen eingesetzt. Vor allem sind hier viele der Vieh- und Güterwaggons produziert worden, ohne die der millionenfache Judenmord und überhaupt die Schreckensherrschaft der Nazis nicht hätte durchgeführt werden können.
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