von Helmuth Weiss
In Bremen lässt es sich eigentlich gut leben. Zumindest werden das viele bezeugen, wenn sie in der Öffentlichkeit gefragt werden. Und es stimmt auch: Bremen ist eine liebens- und lebenswerte Stadt. Doch für viele gilt das nicht, für sehr viele sogar.
Das hat eine Kurzexpertise der Paritätischen Forschungsstelle mit dem Titel “Wohnen macht arm” kürzlich erneut deutlich gemacht.
Der Ansatz dieser Expertise: “Basierend auf den Zahlen des Statistischen Bundesamtes wurden die Einkommen um die Wohnkosten bereinigt und so eine Wohnarmuts-Grenze ermittelt. Diese Wohnarmuts-Formel macht
ein bislang unsichtbares Ausmaß der Armut sichtbar.” Die Autorinnnen haben auf der Basis aktueller Zahlen herausgearbeitet, dass viel mehr Menschen von Armut betroffen sind, als die herkömmlichen Statistiken vermuten lassen. Denn allein eine Betrachtung der Einkommensverhältnisse vermittelt ein sehr verzerrtes Bild von der Lebenssituation der Betroffenen, kommt es doch erheblich darauf an, wie hoch die Wohnkosten im Einzelfall sind. Die Möglichkeiten der Lebensgestaltung können extrem unterschiedlich sein wenn - bei gleicher Einkommenshöhe - in einem Fall 400 Euro, in einem anderen 900 Euro Wohnkosten anfallen.
Und das Ergebnis der Studie?
“ Die Paritätische Forschungsstelle hat errechnet, dass 5,4 Millionen Menschen mehr von Armut betroffen sind als gedacht. In den konventionellen Armuts-Statistiken waren sie bislang unsichtbar.
Insgesamt sind 21,2 Prozent der Bevölkerung, also 17,5 Millionen Menschen, in Deutschland von Wohnarmut betroffen…Der Schwellenwert liegt nach diesen Berechnungen für einen Ein-Personen-Haushalt bei 1.016 Euro. ” (Wer weniger als 60 % des Medianeinkommens erhält gilt als arm)
Was heißt das für Bremen?
Wieder einmal hat es Bremen geschafft, sich beim Vergleich der Bundesländer an die Spitze zu setzen - natürlich je nachdem, von welcher Seite aus man die Tabelle betrachtet. Werden bei der konventionellen Armutsquote für Bremen 21,5 % der Einwohner als arm angesehen, so beträgt die wohnkostenbereinigte Armutsquote für Bremen 29,3 % (Zahlen für 2023). In absoluten Zahlen ausgedrückt: 197 000 Menschen in Bremen sind von wohnkostenbereinigter Armut betroffen (nach konventioneller Armutsquote waren es nur 146 000, also 51 000 Menschen weniger). Die höchste Armutsquote aller Bundesländer !!!
Alleinstehende Frauen mit 40,4 % und Alleinstehende (65 Jahre und älter) mit 41,7 % bilden dabei die Spitze des Eisbergs (Zahlen für das gesamte Bundesgebiet).
Auch bei den Wohnnebenkosten belegt Bremen laut einen der Spitzenplätze. Unter 100 vergleichbaren Städten belegt Bremen Platz 73 und Bremerhaven Platz 90. Ein Beispiel: Bezahlt in Regenburg eine vierköpfige Musterfamilie für Grundsteuer, Abwasser und Müllgebühren 874 Euro, so werden in Bremerhaven 1624 Euro fällig, in Bremen 1528.
Die Armut in Bremen ist also weitaus höher, als so manch offiziell verkündete Zahl glauben lässt. Um der weit verbreiteten Armut zu begegnen, wäre ein Bündel von Maßnahmen nötig (vom deutlich höheren Mindestlohn, armutsfesten Mindestrenten bis hin zu spezifischen wohnungspolitischen Maßnahmen, bei denen die Bundesländer größeren Einfluss haben), die an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden sollen.
Doch das ist nicht der einzige Spitzenplatz, mit dem Bremen glänzen kann. Betrachten wir einmal den Bildungssektor.
Der INSM-Bildungsmonitor 2024, eine Vergleichsstudie des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) im Auftrag der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) weist Bremen in vielen Bereichen des Bildungswesens den letzten Platz im Vergleich mit den anderen Bundesländern zu.
Beispiel Bildungsarmut: “Bei den jüngsten Überprüfungen der Bildungsstandards im Bereich Lesen, Hörverständnis und in Mathematik wies Bremen bei den Viertklässlerinnen und Viertklässlern jeweils die höchste Risikogruppe auf. Dies gilt auch für die Risikogruppe der Neuntklässlerinnen und Neuntklässler im Lesen. Weiterhin fiel die Schulabbrecherquote in Bremen mit 9,2 Prozent im Jahr 2022 höher aus als im Bundesdurchschnitt (6,8 Prozent).”
Beispiel Schulqualität: “Bremen nimmt bei der Schulqualität den letzten Platz aller Bundesländer ein. Dies gilt sowohl für die IQB-Vergleichstests der Viertklässlerinnen und Viertklässler als auch bei den Tests der Neuntklässlerinnen und Neuntklässler.”
Beispiel Integration: “ Im Jahr 2022 erreichten in Bremen 24,9 Prozent der ausländischen Schulabsolventinnen und -absolventen keinen Abschluss (Bundesdurchschnitt: 16 Prozent). Schließlich zeigt die jüngste Kompetenzerhebung des IQB für die Neuntklässlerinnen und Neuntklässler, dass der Zusammenhang zwischen sozioökonomischer Herkunft und Bildungserfolg im Lesen in Bremen relativ groß ist.”
Beispiel Förderinfrastruktur: “Der Anteil der ganztags betreuten Kinder im Alter zwischen drei und sechs Jahren lag in Bremen im Jahr 2023 bei 38,6 Prozent (D: 46,6 Prozent)…..Auch der Anteil der Schülerinnen und Schüler an
Ganztagschulen im Sekundarbereich I fiel mit 32,4 Prozent unterdurchschnittlich aus (D: 48,6 Prozent). Zudem weist Bremen den höchsten Anteil an Ungelernten am Personal in den Kindertageseinrichtungen auf (Bremen: 5 Prozent; D: 2,4 Prozent).”
(Alle Zitate entstammen der Vergleichsstudie)
Auch im Bereich der Kinderarmut belegt Bremen einen Spitzenplatz. Für 2023 vermeldet die offizielle Statistik, dass 41,4 % der Kinder unter 18 Jahren als armutsgefährdet gelten, mehr als in jedem anderen Bundesland. Der Durchschnitt für Deutschland beträgt 20,7 %, also die Hälfte verglichen mit den Bremer Verhältnissen.
Zunehmende Gewalt und Gewaltbereitschaft bereitet der Gesellschaft auch in Bremen große Sorgen. Zwei Beispiele an dieser Stelle: Obwohl bezüglich der Zahl der Schutzplätze in Frauenhäusern Bremen gut dasteht (knapp 2,1 Plätze auf 10 000 Einwohner) im Vergleich zu anderen Bundesländern, wird man auch hier den tatsächlichen Anforderungen nicht gerecht, immer wieder müssen hilfesuchende Frauen aufgrund fehlender Plätze abgewiesen werden. Bedenkt man, dass wir es hier nur mit der Spitze des Eisbergs zu tun haben - jede 3. Frau in Deutschland ist von sexueller und/oder körperlicher Gewalt betroffen, 25 % aller Frauen erleben körperliche und/oder sexuelle Gewalt in der Partnerschaft - so kann die Dimension der tatsächlichen Gewaltausübung in unserer Gesellschaft gar nicht überschätzt werden. In Bremen steht man wie auch in den anderen Bundesländern vor einer gewaltigen gesellschaftspolitischen Herausforderung.
Ein zweites Beispiel: Wurden in Bremen 2021 von der Polizei 93 Gewaltdelikte gegen Schüler verzeichnet, so waren es 2023 bereits 267, fast drei mal so viel!
Die Liste der Problemfälle Bremens ließe sich noch deutlich erweitern: in den Bereichen Gesundheit, Arbeitslosigkeit, Verkehr, Migration etc..
Doch es gibt einen Bereich, in dem Bremen zwar noch nicht die Spitzenposition innehat, doch auf einem guten Weg nach oben ist: Bremen als wichtiger und aufsteigender Ort der Rüstungsindustrie. Die Rüstungshochburg Bremen kann mit Unternehmen wie Atlas Elektronik, Airbus Rheinmetall, Lürssen Werft, OHB und Saab aufwarten, die ein breites Spektrum an militärischem Gerät produzieren. Seit ca. 2 Jahren explodieren Aufträge, Umsätze und Gewinne. Beispiel Rheinmetall, wo man 2023 den Umsatz um 12 % auf beeindruckende 7.2 Milliarden Euro steigerte, der Gewinn stieg um 19 %, der Kurs der Aktie stieg von knapp 83 Euro 2022 auf über 500 Euro. Die großen ausländischen Anteilseigner, die maßgeblich die Politik und Entscheidungen des Unternehmens bestimmen, wie BlackRock, Société Générale, UBS, Bank of America und Goldman Sachs wirds freuen. Geplant ist übrigens für die nächsten Jahre ein Umsatzsteigerung auf 20 Milliarden Euro, der jetzige Auftragsbestand lässt es als nicht unwahrscheinlich erscheinen. Rheinmetall liefert Waffen an 139 von 193 Staaten. Mit der Produktion von immer mehr todbringenden Waffen, will man damit ernsthaft in Bremen glänzen und moralische Glaubwürdigkeit behalten ?
Die Politik steht in Bremen vor gigantischen Aufgaben. Mit einem punktuellen Drehen an Stellschrauben ist es nicht getan, eine völlige Neuorientierung ist vonnöten. Die regierenden Parteien an der Spitze der Stadt, SPD, Grüne und Linke, haben ganz offensichtlich versagt, in zentralen sozialen Fragen eine Verbesserung herbeizuführen, und das schon seit Jahren und Jahrzehnten. Von CDU, FDP und AfD ist ebenfalls nichts für die Mehrheit der Menschen in der Stadt zu erwarten, ganz im Gegenteil. Ob das BSW in Zukunft die Rolle einer entschiedenen Kraft zur Veränderung einnehmen kann, wird sich zeigen. Die bislang vorliegenden programmatischen Vorschläge deuten auf jeden Fall in die richtige Richtung.
Weitere Informationen
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