Innere Militarisierung und ihre Gefahren


von Rolf Gössner*

Seit der von SPD-Bundeskanzler Olaf Scholz ausgerufenen »Zeitenwende« erleben wir eine hierzulande kaum noch vorstellbare Militarisierung von Politik, Staat und Gesellschaft. Wir erleben eine ungeheure Aufrüstung der Bundeswehr mit einem Fake- »Sondervermögen« – korrekt sind das ja Sonderschulden – von 100 Milliarden Euro, eigens im Grundgesetz abgesichert; dann die Erfüllung des Zwei-, möglicherweise auch des Drei-Prozent-Ziels der Nato für Militärausgaben, darüber hinaus milliardenschwere Militärhilfen sowie Lieferungen von Rüstungsgütern und Kriegswaffen an Kriegsparteien und in akute Kriegsgebiete; neue Nato-Hauptquartiere in Wiesbaden und Rostock, einerseits zur Koordinierung von Waffenlieferungen und Ausbildungshilfen für ukrainische Soldaten, andererseits zur Überwachung des Ostseeraums; dann der Exekutivbeschluss zur Stationierung von US-Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite von bis zu 2.500 Kilometern – ohne parlamentarische Legitimation. So wird Deutschland mehr und mehr zur militärischen Drehscheibe der Nato in Europa aufgerüstet – mit starrem Blick gen Osten.

Parallel dazu erfasst die innere Militarisierung zunehmend rein zivile staatliche und gesellschaftliche Bereiche wie Bildung, Wissenschaft und Forschung (vgl. dazu: Rolf Gössner: Militarisierung des Bildungssektors, Ossietzky 17/2024, online hier), und nicht zu vergessen: die ideologischpolitischen und medialen Begleitmanöver – ein Kampf um die Köpfe der Bevölkerung, die sich noch überwiegend skeptisch bis abweisend zeigt. Nun wird ab 2025 – parallel zur Wiedereinführung von Wehrerfassung, Wehrüberwachung und Neuem Wehrdienst – auch noch ein jährlicher Veteranentag gefeiert; denn, so steht es in den Verteidigungspolitischen Richtlinien (2023): »Die Bundeswehr einschließlich der Reserve gehört in die Mitte der Gesellschaft.«

Dazu passt die Forderung von Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius, angeblich des beliebtesten Politikers der SPD, die Bundeswehr und das ganze Land nicht nur »verteidigungsbereit « zu machen, sondern darüber hinaus »kriegstüchtig« – was sehr viel mehr bedeutet als grundgesetzkonforme Verteidigungsfähigkeit. Dabei ist doch die Bundeswehr, trotz aller Mängel, bereits heute eine der stärksten Streitkräfte in Europa und innerhalb der Nato. Ende 2024 ist die Existenz eines »Operationsplans Deutschland« bekannt geworden, ein über 1.000seitiges Geheimpapier der Bundeswehr, in dem eine großangelegte »sicherheitspolitische Neuausrichtung « gefordert wird: »Deutschland und seine Bevölkerung müssen wehrhafter und resilienter werden, um gegen Bedrohungen und Aggressoren gewappnet zu sein. Diese Herausforderungen können nicht rein militärisch, sie müssen gesamtstaatlich und gesamtgesellschaftlich gemeistert werden.«

Genau diese proklamierte »ganzheitliche« zivil-militärische Gesamtstrategie kann zu einer fortschreitenden inneren Militarisierung privat-wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und staatlicher Bereiche führen, verbunden mit der Gefahr, dass sich hieraus ein militärisch-industrieller Komplex (MIK) jenseits demokratischer Institutionen und Strukturen entwickelt. Mit Blick auf die USA lässt sich feststellen, dass der MIK eine eigene Öffentlichkeits- und Medienstrategie verfolgt: Durch Feindbilder, Angstpolitik und systematische Irreführung, durch Verweise auf Bedrohungspotentiale, auf Gefahren für Freiheit und Demokratie, auf die Notwendigkeit von Abschreckung, Kriegsfähigkeit und Interventionen versuchen Lobbyisten des MIK, öffentliche Meinung, Politik und Staat in ihrem Sinne zu beeinflussen.

Die neuerliche Aufrüstungspolitik und Militarisierung im Inneren der Bundesrepublik haben nicht erst vor zwei, drei Jahren begonnen, sondern sie bauen auf innere Auf- und Nachrüstungen der letzten Jahrzehnte auf

Die neuerliche Aufrüstungspolitik und Militarisierung im Inneren der Bundesrepublik haben nicht erst vor zwei, drei Jahren begonnen, sondern sie bauen auf innere Auf- und Nachrüstungen der letzten Jahrzehnte auf (dazu auch: Johannes Klotz: Die Militarisierung der Republik, in: Ossietzky 2/2024): Schon im Zuge der Antiterrorpolitik nach 9/11 – also seit 2001 – erlebten wir einen enormen Strukturwandel im Sicherheitssystem der Bundesrepublik. So kommt es seit vielen Jahren nicht nur – entgegen dem verfassungskräftigen Trennungsgebot – zu einer verstärkten machtkonzentrierenden Vernetzung von Polizei und Geheimdiensten, sondern – neben der Militarisierung der Außenpolitik mit Auslandseinsätzen der Bundeswehr jenseits ihres Verteidigungsauftrags – auch zu einer Militarisierung der »Inneren Sicherheit«. Im Mittelpunkt steht dabei der Bundeswehreinsatz im Inland mit erheblichem Ausweitungspotential – und dies unter Missachtung jener wichtigen Lehre aus der deutschen Geschichte, wonach die Aufgaben und Befugnisse von Polizei, Geheimdiensten und Militär strikt zu trennen sind.

Selbst in Friedenszeiten – also ohne militärischen Angriff von außen – soll und kann die Bundeswehr im Inneren des Landes flexibler eingesetzt werden. So sieht es schon das »Weißbuch« 2016 des Verteidigungsministeriums vor, und auch nach den neuen Verteidigungspolitischen Richtlinien von 2023 sollen die »zivil-militärische Verteidigung« und damit der sog. Heimatschutz weiter intensiviert werden. Und zwar nicht nur im bereits zulässigen Fall von Katastrophen und schweren Unglücken, nicht nur im Spannungs- oder Notstandsfall nach den umstrittenen Notstandsgesetzen, sondern auch als eine Art nationale Sicherheitsreserve im Inland, quasi als militärische »Hilfspolizei«, etwa zur Abwehr von Terror oder „hybriden Bedrohungen“. Dafür und für militärische Auslandseinsätze finden längst gemeinsame Übungen von Nato-Verbänden, Bundeswehr und Polizei statt – so besonders in Schnöggersburg, Europas größter militärischer Geister- und Kampfübungsstadt in Sachsen-Anhalt.

»Innere Sicherheit«, Terror- und Gefahrenabwehr im Inland sind klassische Aufgaben der Polizei, nicht der Bundeswehr. Soldaten sind keine Hilfspolizisten, sie sind nicht für polizeiliche Aufgaben nach dem Verfassungsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit, sondern zum Kriegführen ausgebildet und mit Kriegswaffen ausgerüstet

Doch »Innere Sicherheit«, Terror- und Gefahrenabwehr im Inland sind klassische Aufgaben der Polizei, nicht der Bundeswehr. Soldaten sind keine Hilfspolizisten, sie sind nicht für polizeiliche Aufgaben nach dem Verfassungsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit, sondern zum Kriegführen ausgebildet und mit Kriegswaffen ausgerüstet. Und sie sind auch nicht dafür da, personelle Defizite bei der Polizei auszugleichen. Übrigens auch nicht, um im privatisierten, krank gesparten und profitorientierten Gesundheits- und Pflegewesen, in Gesundheitsämtern oder Impfzentren Personaldefizite zu kompensieren, wie das während der Corona-Krise fast widerspruchslos geschehen ist. Damals hatte ein Generalmajor der Bundeswehr sogar die Leitung des zivilen Corona-Krisenstabs inne; es war der Kommandeur des Kommandos Territoriale Aufgaben, das für Einsätze der Bundeswehr im Inland zuständig ist.

Insgesamt gesehen gibt es eine fatale Tendenz dieser Art von staatlicher Sicherheits- und Krisenreaktionspolitik: nämlich den Rechtsstaat radikal umzubauen, die verfassungsrechtlichen Grenzen zwischen Polizei und Geheimdiensten zu schleifen, die Grenzen zwischen Innerer Sicherheit und Außenpolitik, zwischen Verteidigung und Intervention, zwischen Militär und Polizei zu verwischen sowie das Instrumentarium des Ausnahmezustands zu schärfen. Auch die 2023 von der Ampelregierung beschlossene »Nationale Sicherheitsstrategie« mit ihrem Konzept der »Integrierten Sicherheit« weist genau in diese Richtung.

Damit zurück zur aktuellen Militarisierung im Innern und der deutschen Militär-Unterstützung von Kriegsparteien – politische Entscheidungen, die schwerwiegende verfassungs- und völkerrechtliche Folgen zeitigen:

1. Angesichts der insgesamt recht einseitigen Fokussierung auf hundertmilliardenschwere militärische Aufrüstung und Kriegsertüchtigung, aber auch auf exzessive Rüstungs- und Waffenlie ferungen in Kriegsgebiete droht das Friedensgebot des Grundgesetzes, nämlich vorrangig »dem Frieden der Welt zu dienen« (Präambel, Art. 1, 24, 25, 26 GG), längst unter die Panzerketten zu geraten. Damit unmittelbar verbunden ist die Tatsache, dass angesichts der herrschenden Eskalationspolitik im Zusammenhang mit der militärischen Unterstützung der Ukraine durch USA, Nato und Deutschland – inzwischen auch noch mit der Möglichkeit, militärische Ziele in Russland zu zerstören – friedensfördernde diplomatische Bemühungen von vornherein ins Hintertreffen, ja fast gänzlich aus dem Blick geraten sind; und damit Deeskalationsstrategien, Waffenstillstandsbemühungen sowie Chancen eines Verhandlungsfriedens unter Berücksichtigung der Sicherheitsinteressen beider Seiten. Chancen, die es ja anfänglich wohl durchaus gegeben hat. Stattdessen wird dieser verlustreiche und zerstörerische Krieg, der sich längst zum Stellvertreter- und Abnutzungskrieg entwickelt hat, weiter befeuert und verlängert.

2. Was die seit Oktober 2023 auf 326 Millionen Euro verzehnfachten deutschen Rüstungs- und Waffenlieferungen an den Staat Israel anbelangt, dessen überwiegend rechtsradikale Regierung den Gazastreifen in Schutt und Asche bomben ließ – ohne Rücksicht auf die Bevölkerung, die über 45.000 Tote und unzählige Verletzte zu beklagen hat: Angesichts dessen erhärtet sich der dringende Verdacht, dass Ampelregierung und Bundesrepublik völkerrechtswidrige Beihilfe zu Kriegsverbrechen des israelischen Militärs in Gaza und im Libanon geleistet haben, womöglich auch Beihilfe zu Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Eine entsprechende Klage Nicaraguas gegen Deutschland ist beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag anhängig.

Immerhin haben inzwischen mehrere Staaten das einzig Richtige gemacht: nämlich ihre Waffenlieferungen an Israel eingestellt, weil es längst nicht mehr um eine Unterstützung des völkerrechtsgemäßen Verteidigungsrechts Israels gegen den Terror der Hamas geht. Doch Deutschland lieferte und liefert weiterhin offenbar aus Gründen der »Staatsräson« Rüstungsgüter und Waffenteile, so hat es Kanzler Scholz noch Ende 2024 Israel zugesichert – wohl wissend, wie Israels Militär in Gaza und Libanon ohne Rücksicht auf Zivilisten und überlebenswichtige Infrastruktur und Versorgung agierte und wütete. Allein 2024 wurden Rüstungsexporte für über 130 Millionen Euro genehmigt.

Wegen Beihilfe wird bestraft, wer vorsätzlich einem anderen zu dessen rechtswidrigen Taten Hilfe leistet.

Doch mittlerweile hat der Internationale Strafgerichtshof bekanntlich Haftbefehle gegen Israels Premier Netanjahu und Ex-Verteidigungsminister Gallant erlassen – wegen dringenden Verdachts auf Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Damit sind auch Bundesregierung und Bundesrepublik stark mitbelastet: wegen mittelbarer, militärisch, finanziell und politisch unterstützender Beteiligung an diesen Kriegsverbrechen in Gaza und Libanon. Wegen Beihilfe wird bestraft, wer vorsätzlich einem anderen zu dessen rechtswidrigen Taten Hilfe leistet. Jetzt sind sowohl der Generalbundesanwalt als auch der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag gefordert, die deutschen Unterstützungshandlungen gemäß Völkerstrafrecht und Völkermord- Konvention zu bewerten und gegebenenfalls zu ahnden. Schließlich dürfen deutsche »Staatsräson« und »unverbrüchliche« Solidarität mit Israel kein Freibrief für straffreie Unterstützung eklatanter Menschen- und Völkerrechtsverbrechen sein – auch das ist eine ganz entscheidende Lehre aus der deutschen Geschichte, egal um welche Staaten und Akteure es sich dabei handelt.

3. Angesichts dieser gefährlichen und mutmaßlich völkerrechts- und verfassungswidrigen Aufrüstungs- und Kriegspolitik droht ein überlebenswichtiger Bereich weiter unter die Räder zu kommen: Es geht um nichts weniger als um das Gebot der Sozialstaatlichkeit im Grundgesetz (Art. 20 Abs. 1), das durch die milliardenschweren Aufrüstungsmaßnahmen und Waffenlieferungen, die vor allem der Rüstungsindustrie massive Gewinne bescheren, mit Sicherheit in Mitleidenschaft gezogen wird. Zu Lasten öffentlicher Daseinsvorsorge und sozialer Infrastrukturen.

Denn tatsächlich stellt sich schon lange die bislang nicht ansatzweise gelöste soziale Frage, die jahrzehntelang politisch sträflich vernachlässigt worden ist und sich nun enorm zu verschärfen droht. Es war der Europarat, der erst im März dieses Jahres die soziale Situation der Bundesrepublik scharf kritisierte: Das »hohe Maß an Armut und sozialer Benachteiligung« stehe in keinem Verhältnis zum Reichtum des Landes. Deutschland müsse bei der Bekämpfung von Armut und Wohnungsnot deutlich mehr tun – ebenso für das lange Zeit vernachlässigte Bildungs- und Gesundheitswesen sowie für Integrationsleistungen, die künftig auch noch eingeschränkt werden sollen. Tatsächlich besteht die große Gefahr, dass die dringend nötige Lösung der sozialen Frage nach Ausrufung von „Zeitenwende“ und „Kriegstüchtigkeit“ weitgehend ausgebremst wird. Mit der fatalen Folge, damit soziale Sicherheit und sozialen Frieden in diesem Land noch über das bisherige bedenkliche Maß hinaus aufs Spiel zu setzen und die ohnehin fortschreitende soziale Ungleichheit und Armutsentwicklung noch weiter zu befördern.

Doch gerade von der umfassenden Lösung sozialer Fragen wird letztlich abhängen, wie stark dieses Land und diese Gesellschaft gespalten bleiben und wie stark der innere Frieden noch mehr gefährdet wird. Vielleicht, ja, vielleicht könnte mit einer neuen, innovativen und fortschrittlichen Sozial-, Bildungs-, Gesundheits- und Integrationspolitik sowie mit intensivem zivilgesellschaftlichem Engagement auch dem grassierenden Rechtspopulismus und rechtsautoritären Heilslehren der hässlich-braune Nährboden entzogen werden – ein Nährboden, den allzu viele Menschen aus der krisengeplagten Bevölkerung in diesen schwierigen Zeiten fatalerweise für einen Ausweg aus ihrer Misere halten. Mit der nächsten Bundestagswahl werden die Weichen gestellt.

Der Beitrag erschien bereits in "Ossietzky", Zweiwochenschrift für Politik/Kultur/Wirtschaft Nr. 2-2025 v. 25.01.2025 und basiert auf seiner Plenumsrede während des 31. Kasseler Friedensratschlags Ende 2024.


Über den Autor:
Dr. Rolf Gössner ist Publizist und Jurist, Kuratoriumsmitglied der Internationalen Liga für Menschenrechte sowie
Mitherausgeber des jährlichen "Grundrechte-Report. Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland"
und der Zweiwochenschrift für Politik/Kultur/Wirtschaft „Ossietzky“. Autor zahlreicher Bücher zu Demokratie, Innerer
Sicherheit und Bürgerrechten, zuletzt: „Datenkraken im öffentlichen Dienst. ‚Laudatio’ auf den präventiven
Sicherheits- und Überwachungsstaat“, Köln 2021. Mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Hans-Litten-Preis der
Vereinigung Demokratischer Jurist:innen (VDJ). Internet: www.rolf-goessner.de Rolf Gössner lebt in Bremen, wo er von 2007-2023 stellv. Richter am Staatsgerichtshof der Freien Hansestadt Bremen war.

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