Gesundheitssysteme in der EU
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Sars-Cov2 ist die aktuelle Variante des seit Jahrzehnten bekannten Corona-Virus. Er war so ähnlich schon ein paar mal aufgetaucht, 2003 als SARS, 2012 als MERS. Vor neuen Varianten wurde seit den 1990er Jahren gewarnt. Trotzdem war auch die EU völlig unvorbereitet.

Corona-Virus in der EU: Gesundheitssysteme nicht vorbereitet


von Werner Rügemer *

EU: Gesundheit und Arbeit als Ware

„Im Mittelpunkt der EU-Gesundheitspolitik stehen der Schutz und die Verbesserung der Gesundheit, die effiziente Gesundheitsversorgung und die koordinierte Reaktion auf schwerwiegende Gesundheitsgefahren, die mehr als ein EU-Land bedrohen.“ So verkündet die EU. (1) Das klingt gut, oder?

Doch die EU fördert über den Binnenmarkt den Zugang privater Investoren. In Deutschland haben Konzerne wie Asklepios, Rhön-Kliniken, Helios/Fresenius, Ameos und der Reha-Konzern Median nicht nur große Klinikketten gebildet, sondern verkaufen über Tochterbetriebe zahlreiche medizinische Dienstleistungen. Das größte europäische Krankenhaus, die Berliner Charité, ist zwar eine Körperschaft des öffentlichen Rechts, aber radikal durchprivatisiert. (2)

Gesundheit wird zur Ware auf dem kapitalistischen Markt. Zehntausende Stellen in der Pflege wurden abgebaut, die Zahl der Behandlungen erhöht. 2019 forderte die Bertelsmann-Stiftung, die meisten der heute noch 1.400 öffentlichen Kliniken zu schließen, wegen „Überkapazitäten“, und 600 größere, effizientere übrig zu lassen. Ortsnahe Versorgung – unwichtig.

Das knappe, überlastete Pflegepersonal wird schlecht bezahlt. Deshalb haben in den letzten zwei Jahrzehnten etwa 400.000 Pflegekräfte in Deutschland ihren Arbeitsplätzen den Rücken gekehrt. Andere Beschäftigte werden noch schlechter bezahlt: Möglichst viele Stellen werden in prekäre Arbeitsplätze bei Subunternehmen ausgelagert: Für Krankentransport, Reinigung, Küche, Wäscherei, Lagerhaltung, Erfassung der Krankenakten, Sanitäres, Hausmeister, wie es die Charité vorgemacht hat. (3) Reinigen unter Zeitdruck auf Sicht, auch jetzt bei Corona - Hygiene gerade im Krankenhaus? Zweitrangig.


Fallpauschale aus den USA

Diese Profitausrichtung wurde noch gesteigert durch die Fallpauschale, Diagnosis Related Groups, DRG. Sie wurde an der privaten Eliteuniversität Yale entwickelt und 1983 in das US-Gesundheitssystem eingeführt.

Damit wird nicht die heilende Tätigkeit belohnt, sondern die möglichst kurzfristige und technikintensive Behandlung einzelner Krankheiten. Jedes Bett muss schnell für die nächste Operation leergeräumt werden. Das gehörte zum neoliberalen Programm des US-Präsidenten Ronald Reagan. Er war Ex-Pressesprecher von General Electric – der wichtigste US-Hersteller von Medizingeräten – und versprach die Senkung der Kosten. Das Gegenteil trat ein: Das Gesundheitssystem der USA wurde das teuerste und asozialste der Welt. Es schließt zugleich einen großen Teil der abhängig Beschäftigten und der Arbeitslosen von ausreichender medizinischer Behandlung aus.

Die EU finanzierte das Projekt EuroDRG. Kleinere Staaten wie Irland und die Niederlande übernahmen als erste das System. Die CDU/CSU/FDP-Regierung unter Kanzler Helmut Kohl, während dieser Zeit auch in der Treuhand-Anstalt beraten von McKinsey, setzte 1993 das Gesundheitsstruktur-Gesetz durch. Damit wurde das Kostendeckungsprinzip durch die „leistungsorientierte Vergütung“ abgelöst.

Die SPD/Grüne-Regierung unter Kanzler Gerhard Schröder machte 2004 im Rahmen der Agenda 2010 die Fallpauschale zur Regel, Tony Blair mit New Labour hatte das in Großbritannien vorgemacht. Inzwischen gilt die Fallpauschale in der ganzen EU. Dazu gehört die Entlastung der Arbeitgeber und die vielfältige Belastung der abhängig Beschäftigten durch Zuzahlungen bei der Krankenversicherung, bei Medikamenten, Untersuchungen und Behandlungen. (4) Ergebnis: Betrieb auf Kante, keine Reserven bei Epidemien.


Pandemien-Management: Gekaufte Wissenschaft

Zudem ließ sich die EU durch die oberste wissenschaftliche Autorität in Sachen Gesundheit, die Johns Hopkins University, in Sicherheit wiegen. Die Gesundheits-Institute dieser privaten US-Elite-Universität werden von reichen Unternehmens-Stiftungen finanziert. Sie wirbt weltweit, in Entwicklungsländern und in der EU, für die Vorzüge des US-Gesundheitssystems.

Diese Universität erstellt den Welt-Index für Gesundheitssicherheit (Global Health Security Index). Unter den 195 Staaten der UNO werden die Gesundheitssysteme der USA und Großbritanniens auf Platz 1 und Platz 2 gelistet: Die am weitesten privatisierten und asozialsten Gesundheitssysteme gelten gegen Pandemien als „am besten vorbereitet“! Das Gegenteil zeigt sich. Und die Gesundheitssysteme der wichtigen EU-Staaten gelten in den vorderen Rängen als „gut vorbereitet“! (5)

Auch deshalb wiegten sich die Europäische Kommission und die Regierungen in der EU in Sicherheit. Sie waren auf eine Pandemie nicht vorbereitet. Und sie ergriffen jetzt die Gegenmaßnahmen zu spät.


Nach der Finanzkrise: Kürzungen, Wanderarbeit

Die Gesundheitssysteme in Italien, Spanien und Griechenland liegen seit einem Jahrzehnt noch unterhalb des EU-Normalzustands. Nach der Finanzkrise kamen die Maßnahmen der EU-Kommission, des IWF und der EZB (Troika) hinzu: Sie verlangten zur Rettung der verschuldeten Banken drastische Kürzungen: Nirgends allerdings im Militärhaushalt, sondern im Sozialen und in der Infrastruktur. Allein im Gesundheitsbereich verlangte die Troika zwischen 2011 und 2018 von diesen Staaten 63 Kürzungen: Ärzte und Pfleger entlassen, Krankenhäuser verkaufen! (6)

Die von der Troika auch noch verlangte Senkung von (Tarif)Löhnen, Arbeitslosengeld und Renten führte zusätzlich dazu, dass viele abhängig Beschäftigte, Arbeitslose und Rentner immer mehr medizinische Behandlungen sich gar nicht mehr leisten können. Du bist arm, du brauchst nicht alle Zähne – du kannst früher sterben.

Zur profitablen Verbilligung des Gesundheitsbetriebs fördert die EU die Wanderarbeit. Aus den verarmten Mitglieds- und Anwärterstaaten Osteuropas und Ex-Jugoslawiens werden Ärzte, Krankenhaus- und Altenheimpfleger abgeworben. In Polen, Ungarn, Kroatien, Bosnien und dem Kosovo wurde das Zwei-Klassensystem noch brutaler ausgebaut als im Westen: Die neuen Reichen versorgen sich in Privatkliniken. Daneben verlottern die öffentlichen Gesundheitssysteme, sie bleiben unterfinanziert. Die Monatsgehälter für Ärzte und Pfleger hier liegen zwischen 400 und 1.200 Euro – bei ähnlich hohen Lebenshaltungskosten wie in den reichen EU-Staaten. Vor allem das ältere Personal harrt noch aus, überfordert. Derweil lässt etwa auch der deutsche Gesundheitsminister Jens Spahn jüngere Mitarbeiter in die Krankenhäuser des reichsten EU-Staats abwerben, zum Beispiel aus dem Kosovo.

Die immer wieder aufkommenden Streiks von Ärzten und Pflegern etwa in Polen und Kroatien werden in den reichen EU-Staaten nicht gehört. Im Gegenteil: Die Gesundheitssysteme der armen Mitgliedsstaaten werden noch weiter heruntergewirtschaftet. Die Gesundheit der Mehrheitsbevölkerungen in den zunächst umworbenen neuen Mitgliedsstaaten – egal. Europäische Solidarität – nichts davon.


Die Solidarität fängt erst an, durch uns

Die von den Corona-Krisen-Managern wie dem bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder versprochenen Einmal-Boni für „unsere Helden“ in den Krankenhäusern sind ein Witz. Da ist etwas grundlegend anderes nötig.

Die Reformvorschläge, auch von Verdi, liegen längst auf dem Tisch: Abschaffung der Fallpauschale! Dauerhafte Erhöhung der Arbeitseinkommen für das Personal – auch für die Ausgelagerten in den Subunternehmen! Verdi fordert 80.000 zusätzliche Pflegestellen. „Mehr von uns ist gut für alle“: Mit diesem Motto haben die Beschäftigten der Charité und anderer Kliniken schon lange vorbildlich gekämpft.

In der EU steht die Solidarität erst noch an. Die neuen Mitglieds- und die Anwärterstaaten dürfen nicht als Standorte für Niedriglöhnerei in dortigen Zulieferbetrieben zugerichtet werden. Und auch die billige Wanderarbeit in Richtung der reichen westlichen Staaten muss beendet werden: Das gilt nicht nur für Ärzte und Pfleger. Auch die Niedriglöhnerei mit ausgebeuteten Wanderarbeitern beim Bau, in der Fleisch- und Agrarindustrie muss beendet werden. Das sind übrigens Arbeitsplätze mit hohem Unfall- und Krankenstand. Und kommt in den Massenunterkünften der osteuropäischen Fleischzerleger mal die Polizei vorbei, wegen Corona, um den Abstand zu kontrollieren?

Die Solidarität in der EU muss erst noch hergestellt werden, durch uns. Europaweite Zusammenschlüsse der Beschäftigten wie bei Amazon sind ein Anfang, zum Beispiel. Übrigens: Wir können auch jetzt in der Corona-Krise schon anfangen. So hat die Union Syndicale Solidaires mit den Friends of the Earth in Frankreich Amazon verklagt. Das Gericht in Nanterre hat am 14. April 2020 den Konzern verurteilt: Wenn für die Beschäftigten kein wirksamer Infektionsschutz eingerichtet wird, ist eine Million Euro Strafe fällig, pro Tag. Dringend benötigte Waren wie Nahrungs- und Arzneimittel sollen ausgeliefert werden, aber z.B. keine Porno-CDs. „Ein erster gewerkschaftlicher Sieg“, so die Union Syndicale Solidaires. (7) „Ein erster“: Es geht weiter!

 

Anmerkungen

(2) Wigand/Rügemer: Die Fertigmacher S. 211ff.

(3) Elmar Wigand/Werner Rügemer: Die Fertigmacher. Köln 3. Auflage 2017, S. 214f.

(4) European Observatory on Health Systems: Diagnosis-Related Groups in Europe, Berkshire/New York 2011

(5) https://www.ghsindex.org, abgerufen 25.3.2020

(6) Emma Clancy: Austerity Kills. EU Commission Demanded Cuts to Public Health Care Spending 63 Times from 2011 – 2018, https://braveneweurope.com 28.3.2020



* Werner Rügemer

Dr. Werner Rügemer, Köln, Publizist, hat an der damaligen Reformuniversität Bremen 1979 seine Doktorarbeit im Bereich philosophischer Anthropologie und Soziologie verfasst. Bis 2017 Lehrbeauftragter an der Universität Köln. . www.werner-ruegemer.de

Letzte Buchveröffentlichung: "Die Kapitalisten des 21. Jahrhunderts", Papyrossa-Verlag Köln 2018, 3. Auflage 2021, mit neuem Vorwort. 357 Seiten, 19,90 Euro. Darin wird u.a. das Wirken der neuen Kapitalorganisatoren etwa in der inzwischen größten Rehe-Klinikkette Median geschildert. Erhältlich im Buchhandel oder online direkt hier beim Verlag.

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