Alternativen zur wachsenden Ungleichheit
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Alternativen zur wachsenden Ungleichheit


von Christoph Butterwegge*

Selten war die Bundesrepublik Deutschland politisch so zerrissen wie nach dem parlamentarischen Trauerspiel in Thüringen und dem ihm folgenden Rücktritt Annegret Kramp-Karrenbauers als CDU-Vorsitzende. Um diese sich gewissermaßen auf der parteipolitischen Vorderbühne abspielenden Ereignisse verstehen zu können, muss man die gesellschaftlichen Hintergründe der Zersplitterung des Parteiensystems, des Niedergangs der beiden „Volksparteien“ und der Krise des parlamentarischen Repräsentativsystems einschließlich der sozialen Abstiegsängste in der unteren Mittelschicht und der (Wahl-)Erfolge des Rechtspopulismus ausleuchten.

 

Seit geraumer Zeit nimmt die sozioökonomische Ungleichheit deutlich zu, wodurch sowohl der gesellschaftliche Zusammenhalt wie auch die repräsentative Demokratie bedroht sind. Ursächlich dafür ist, dass die Bundesregierung in wechselnder Zusammensetzung unter dem wachsenden Einfluss des Neoliberalismus den Arbeitsmarkt dereguliert, den Sozialstaat demontiert und eine Steuerpolitik nach dem Matthäus-Prinzip („Wer hat, dem wird gegeben, und wer nicht viel hat, dem wird auch das noch genommen“) praktiziert hat.

Sollen der gesellschaftliche Zusammenhalt wiederhergestellt und die repräsentative Demokratie gestärkt werden, muss die sozioökonomische Ungleichheit verringert werden. Ist die zunehmende Ungleichheit primär eine Folge der neoliberalen Modernisierung unserer Gesellschaft, kann sie nur durch die Beseitigung oder die Milderung der Folgen dieses Prozesses mit Erfolg bekämpft werden. Ob sich die Ungleichheit weiter verschärft oder abschwächt, hängt maßgeblich davon ab, ob und was dagegen auf unterschiedlichen Politikfeldern unternommen wird.

Verhinderung von Armut: Entwicklung des Mindestlohns zu einem Lebenslohn

Der von CDU, CSU und SPD zum 1. Januar 2015 eingeführte Mindestlohn stieg von 8,50 Euro auf 9,35 Euro brutto pro Stunde, d.h. in sechs Jahren gerade mal um 10 Prozent. Zwar hat er die Massenkaufkraft gestärkt und die Binnenkonjunktur belebt, aber wenig zur Armutsbekämpfung beigetragen. Seine größte Schwachstelle liegt vermutlich darin, dass er nicht politisch, sondern auf der Grundlage des Votums einer paritätisch von Arbeitgebern und Gewerkschaften, einem „neutralen“ Vorsitzenden sowie zwei nicht stimmberechtigten Wissenschaftler(inne)n besetzten Kommission festgelegt wird, die sich dabei nachlaufend an der Tariflohnentwicklung orientiert. Schließlich ist ein gesetzlicher Mindestlohn in Deutschland hauptsächlich deshalb nötig, weil die Gewerkschaften in vielen Branchen inzwischen zu schwach sind, um ausreichend hohe Tariflohnsteigerungen durchzusetzen.

War das Arbeitslosengeld II nach dem „Kombilohn“-Muster so konstruiert, dass seine Bezieher/innen zusätzlich erwerbstätig sein müssen, um menschenwürdig leben zu können, ist der großkoalitionäre Mindestlohn analog so konstruiert, dass ergänzend Arbeitslosengeld II bezogen werden muss, weil seine Höhe kaum zur Deckung des Lebensunterhalts ausreicht. Schließlich muss man über den Lohn sowohl Miete wie Heizkosten erwirtschaften, die bislang das Jobcenter bezahlt hat; zweitens die Differenz zwischen dem Kindergeld und dem Hartz-IV-Regelsatz für Kinder. Außerdem entfällt das Bildungs- und Teilhabepaket (BuT) mit seinen ergänzenden Leistungen.

Nach der Einführung des Mindestlohns ging die Anzahl der „Erwerbsaufstocker/innen“ daher nur wenig zurück, und Geringverdiener/innen mit Kindern, die in einer Großstadt mit den heute üblichen hohen Mieten wohnen, hatten praktisch keine Chance, der Hartz-IV-Abhängigkeit durch Anhebung ihres Lohns auf die gesetzlich vorgeschriebene Mindesthöhe zu entkommen. Durch den großkoalitionären Mindestlohn wurde höchstens eine weitere Lohnspreizung verhindert und der Niedriglohnsektor zwar nach unten abgedichtet, aber nicht eingedämmt oder gar abgeschafft, was jedoch nötig wäre, um Armut und soziale Ausgrenzung wirksam zu bekämpfen.

Nur ein Mindestlohn in existenzsichernder Höhe, die Streichung sämtlicher (besonders vulnerable Gruppen wie Langzeitarbeitslose, Jugendliche ohne Berufsabschluss und Kurzzeitpraktikanten treffender) Ausnahmen sowie eine flächendeckende Überwachung durch die zuständige Finanzkontrolle Schwarzarbeit des Zolls könnten bewirken, dass der Mindestlohn überall ankommt. Außerdem ist eine bedarfsgerechte, armutsfeste und repressionsfreie Grundsicherung nötig, soll Armut verhindert werden.

Damit der Mindestlohn zur Verringerung von Armut und sozioökonomischer Ungleichheit beitragen kann, sollte er zu einem „Lebenslohn“ (living wage) fortentwickelt werden, der die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ermöglicht. Baldmöglichst, also nicht erst „perspektivisch“, wie vom SPD-Parteitag im Dezember 2019 beschlossen, muss der Mindestlohn auf 12 Euro steigen.

Da die Aushöhlung bzw. Erosion des Normalarbeitsverhältnisses maßgeblich zur Verbreitung von Armut beigetragen hat, ist die Festigung des Flächentarifvertrages, der vornehmlich in Ostdeutschland kaum noch Breitenwirkung entfaltet, ein weiteres Element ihrer wirkungsvollen und nachhaltigen Bekämpfung. Tarifverträge müssen durch Erleichterung der Allgemeinverbindlichkeitserklärung wieder ihre gesellschaftliche Normsetzungswirkung entfalten, Minijobs in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse umgewandelt, alle sachgrundlosen Befristungen beseitigt und Leiharbeitsverhältnisse entweder ganz verboten oder stärker reguliert werden.

Solidarische Bürgerversicherung und soziale Mindestsicherung für einen inklusiven Sozialstaat

Wenn man Inklusion als gesellschaftspolitisches Kernparadigma begreift, muss ein inklusiver Wohlfahrtsstaat das Ziel sein, der eine gleichberechtigte Partizipation aller Bürger/innen bzw. Wohnbürger/innen am gesellschaftlichen Reichtum wie am sozialen, politischen und kulturellen Leben ermöglicht. Dafür bietet sich eine allgemeine, einheitliche und solidarische Bürgerversicherung an.

Allgemein zu sein heißt, dass sie im Sinne einer Bürgersozialversicherung sämtliche dafür geeigneten Versicherungszweige übergreift: Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung müssten gemeinsam und nach denselben Organisationsprinzipien restrukturiert werden. Einheitlich zu sein heißt, dass neben der gesetzlichen Bürgerversicherung keine mit ihr konkurrierenden Versicherungssysteme existieren dürfen: Private Versicherungsunternehmen müssten sich auf die Abwicklung bestehender Verträge (Bestandsschutz), mögliche Ergänzungsleistungen und Zusatzangebote beschränken. Solidarisch zu sein heißt, dass die Bürgerversicherung zwischen den ökonomisch unterschiedlich Leistungsfähigen einen sozialen Ausgleich herstellt. Nicht bloß auf Löhne und Gehälter, sondern auf sämtliche Einkunftsarten (Zinsen, Dividenden, Tantiemen sowie Miet- und Pachterlöse) wären Beiträge zu erheben.

Nach oben darf es weder eine Versicherungspflichtgrenze noch Beitragsbemessungsgrenzen geben, die es privilegierten Personengruppen erlauben, in exklusive Sicherungssysteme auszuweichen und sich ihrer Verantwortung für sozial Benachteiligte (ganz oder teilweise) zu entziehen. Hinsichtlich der Beitragsbemessungsgrenzen stünde zumindest eine deutliche Erhöhung an. Umgekehrt muss der Staat jene Personen finanziell auffangen, die den nach der Einkommenshöhe gestaffelten Beitrag nicht entrichten können.

Bürgerversicherung heißt, dass alle Personen aufgenommen werden, und zwar unabhängig davon, ob sie erwerbstätig sind oder nicht. Da sämtliche Wohnbürger/innen in das System einbezogen wären, blieben weder Selbstständige, Freiberufler/innen, Beamte, Abgeordnete und Minister noch Ausländer/innen mit Daueraufenthalt in der Bundesrepublik außen vor. Ihre wichtigste Rechtfertigung erfährt die Bürgerversicherung dadurch, dass sie den längst fälligen Übergang zu einem die gesamte Wohnbevölkerung einbeziehenden, Solidarität im umfassendsten Sinn garantierenden Sicherungssystem verwirklicht.

Bürgerversicherung zu sein bedeutet schließlich, dass es sich um eine Versicherungslösung handelt, also gewährleistet sein muss, dass ihre Mitglieder, soweit sie dazu finanziell in der Lage sind, Beiträge entrichten und entsprechend geschützte Ansprüche erwerben. Weil sich der Staat mit Steuergeldern am Auf- und Ausbau einer Bürgerversicherung beteiligen muss, kommen auf ihn erhebliche finanzielle Belastungen zu, die mit einer stärker an der ökonomischen Leistungsfähigkeit der Bürger/innen orientierten Steuer- und Finanzpolitik leichter zu tragen wären.

Abschöpfung des Reichtums: Vergesellschaftung und/oder Umverteilung von oben nach unten?

Wer den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken will, muss die sozioökonomische Ungleichheit verringern und mehr Steuergerechtigkeit verwirklichen. Dazu sind die Wiedererhebung der Vermögensteuer, eine höhere Körperschaftsteuer, eine vor allem große Betriebsvermögen stärker zur Finanzierung des Gemeinwesens heranziehende Erbschaftsteuer, ein progressiver verlaufender Einkommensteuertarif mit einem höheren Spitzensteuersatz und eine auf dem persönlichen Steuersatz basierende Kapitalertragsteuer (Abschaffung der Abgeltungsteuer) nötig.

Armut kann im Rahmen der bestehenden Gesellschaftsordnung nicht durch zunehmenden Reichtum beseitigt werden, da beide systembedingt und integrale Bestandteile des Finanzmarktkapitalismus, aber auch zwei Seiten einer Medaille sind. Reichtum entsteht schließlich nicht trotz der Existenz von Armut, vielmehr gerade durch deren Erzeugung. Korrekturen der Sekundärverteilung durch eine Anhebung des Spitzensteuersatzes der Einkommensteuer oder die Einführung einer Millionärsteuer reichen allerdings längst nicht mehr aus, um die Kluft zwischen Arm und Reich zu schließen. Vielmehr sind auch tiefgreifende Strukturveränderungen nötig, was bisher selten thematisiert wird.

Der gesellschaftliche Zusammenhalt kann nur durch gezielte Umverteilung von oben nach unten gestärkt werden, was harte Auseinandersetzungen zwischen mächtigen Interessengruppen, die früher als Klassenkämpfe bezeichnet worden wären, nicht ausschließt, sondern zur Voraussetzung hat. Entscheidend für die Realisierung einer sozialen Bürger- bzw. Zivilgesellschaft ist, ob es in Zukunft gelingt, das gesellschaftliche Klima im Rahmen einer politischen (Gegen-)Mobilisierung zu verbessern und eine neue Kultur der Solidarität zu entwickeln, die Zuwanderer und ethnische Minderheiten genauso umfasst wie einheimische (Langzeit-)Arbeitslose und Arme.

Umverteilung von oben nach unten ist dringend notwendig, reicht allerdings nicht aus, weil sich die sozioökonomische Ungleichheit selbst im Falle einer konsequenteren Besteuerung hoher Einkommen und großer Vermögen permanent reproduzieren würde. Deshalb muss die Umverteilung längerfristig durch eine Umgestaltung des kapitalistischen Wirtschafts- und Finanzsystems ergänzt werden. Nur wenn die Eigentumsfrage gestellt und durch die Vergesellschaftung der Schlüsselindustrie ebenso wie der Unternehmen mit einer marktbeherrschenden Stellung und eine Verstaatlichung von Banken und Versicherungen beantwortet wird, lässt sich die Ungleichheit dauerhaft verringern.

(Der Beitrag erschien zuerst in OXI 3/2020)



* Prof. Dr. Christoph Butterwegge

Christoph Butterwegge hat bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt. 2017 kandidierte er für das Amt des Bundespräsidenten. Mit Bremen ist er auf vielfältige Weise verknüpft: 1980 Promotion zum Dr. rer.pol. in der Universität Bremen, von 1987-1989 dort auch wissenschaftlicher Mitarbeiter im Studiengang Weiterbildung. 1990 Habilitation im Fach Politikwissenschaft an der Universität Bremen, Dozententätigkeit in Bremen, 1991bis 1994 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bremischen Stiftung für Rüstungskonversion und Friedensforschung.

Letzte Buchveröffentlichung: "Die zerrissene Republik. Wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland". Beltz Juventa. 20. November 2019. 414 Seiten. 24,95 Euro.

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