von Rolf Gössner*
Man stelle sich mal vor, es gäbe hierzulande eine Sicherheitsbehörde, die ohne Gesetz und demokratische Kontrolle arbeitet, obwohl sie dabei tief in Grund- und Menschen rechte von Bürger:innen eingreift. Schwer vorstellbar in einem demokratischen Rechtsstaat wie der Bundesrepublik, in dem die vollziehende Gewalt des Staates an Gesetz und Recht gebunden ist (Artikel 20 Absatz 3 GG) sowie parlamentarisch und ge richtlich kontrolliert werden muss? Doch einen solchen Fall weitgehend gesetzloser und unkontrollierter Staatsgewalt gibt es tatsächlich – und das schon jahrzehntelang.
Die Bundeswehr betreibt neben ihrem regulären Geheimdienst, dem „Militärischen
Abschirmdienst“ (MAD), ein kaum bekanntes „Militärisches Nachrichtenwesen“ (MilNW). Zu diesem „Wesen“ gehören diverse
Bundeswehr-Einheiten, die weltweit geheime Informationsgewinnung, -verarbeitung
und - auswertung betreiben. Sie operieren
unter anderem mit dem Ziel, mögliche sicherheitsgefährdende Angriffe gegnerischer
Kräfte und Staaten zu erkunden und für militärische Sicherheit im In- und Ausland zu
sorgen – enge Kooperationen mit Geheimdiensten des Bundes sowie NATO- und EU
Strukturen sind dabei inbegriffen. Aus den
Erkenntnissen dieser Aktivitäten und Kooperationen werden Gefahrenanalysen über
lokale Bevölkerungen und gegnerische
Streitkräfte erstellt sowie militärische Handlungsempfehlungen abgeleitet.
Dieses MilNW arbeitet wie klassische
Nachrichten- oder Geheimdienste, also
vorwiegend mit geheimen Strukturen, Mitteln und Methoden. Auch wenn die Organisation des MilNW nicht in einer eigenen
Behörde gebündelt, sondern als Quer
schnittsaufgabe auf diverse BW-Einheiten
verteilt ist, handelt es sich also – neben
Bundesverfassungsschutz, Bundesnachrichtendienst (BND) und MAD – um einen weiteren, gleichsam den vierten Nachrichtendienst des Bundes.
Die MilNW-Einheiten mit speziell ausge
bildetem Personal betreiben unter anderem
internationale Fernmeldeaufklärung, hören
also Telekommunikation über Funkgeräte
und Handys etcetera ab, forschen Computer
aus, werben menschliche Quellen an, also
Informant:innen und V-Leute, führen Observationen durch, fertigen und analysieren
Drohnen-Aufnahmen und werten Satellitenbilder aus. Dabei werden automatisiert
und systematisch große Mengen von personenbezogenen Daten und Informationen,
auch aus dem Internet und den „sozialen
Medien“, erfasst, zusammengeführt und
ausgewertet.
Die meisten dieser geheimen Aktivitäten
greifen tief in die Grund- und Menschenrechte von betroffenen Zivilist:innen und
Militärangehörigen sowie deren Kontaktpersonen ein – so in Persönlichkeitsrechte,
das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung und auf Gewährleistung der
Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme, in den Kernbereich
privater Lebensgestaltung sowie in das
Fernmeldegeheimnis. Auch wenn das MilNW vorwiegend im Ausland „aufklärend“
tätig wird, so beobachten die beteiligten
Bundeswehr-Einheiten auch inländische
„Objekte“ – so etwa mit dem Ziel, „gegnerische Propaganda“ frühzeitig zu erkennen
und Angriffe auf das Militär abzuwehren.
Tatsächlich sind davon auch bundeswehrkritische Kräfte und Vereinigungen betroffen, wie etwa das Künstlerkollektiv „Zentrum für politische Schönheit“, das 2022
monatelang vom MilNW mittels „künstlicher Intelligenz“ ausgeforscht worden sein
soll. Das Bundeswehr-„Zentrum Operative
Kommunikation“, das auch „Analysen über
die lokale Bevölkerung und gegnerische
Streitkräfte“ erstellt, hatte seinerzeit im
Rahmen des Pilotprojekts „Propaganda
Awareness“ systematisch und automatisiert
Informationen in Internet, „sozialen Medien“ und Netzwerken sowie Presseprodukten erfasst, verarbeitet, analysiert. Dabei
sollten „gegnerische Propaganda und Desinformation“ frühzeitig erkannt und ausgewertet werden, um „Angriffe auf das Militär
präventiv oder reaktiv“ abwehren zu können
(mittlerweile sind die erhobenen und verarbeiteten Daten angeblich gelöscht worden,
so die Bundesregierung).
Die damit verbundenen mutmaßlich gravierenden Eingriffe in Persönlichkeitsrechte
sowie die Kunst- und Meinungsfreiheit erfolgten, nachdem das „Zentrum für Politische Schönheit“ zuvor mit Kunstaktionen
auf Missstände bei der Bundeswehr aufmerksam gemacht hatte. Auch in diesem
Zusammenhang ist das Künstlerkollektiv
militärisch ins Visier genommen und ausgeforscht worden. Die Ergebnisse mündeten
in eine Fallstudie des Bundeswehr-Kommandos „Cyber- und Informationsraum“
mit dem Titel: „Abwehr und Resilienz.
Guerilla-Aktion des ‚Zentrum für politische
Schönheit’“ (11/2020). Darin wird das „Angriffsnarrativ des Gegners“, also der Aktionskünstler:innen, beklagt, die Bundeswehr
habe ein „gravierendes Problem mit Rechtsextremismus“ und rechten Netzwerken.
Dies könne zur „Verunsicherung der Bevölkerung“ sowie zu einem „Imageschaden
und Vertrauensverlust“ führen, so die Studie; hiergegen müsse mit Maßnahmen der
„direkten Abwehr“ reagiert werden.
Das eigentliche Problem dieses „Militärischen Nachrichtenwesens“: Seine Aufgaben
und Befugnisse sind weder durch ein
rechtsstaatlich zustande gekommenes Gesetz legitimiert, reguliert und wirksam begrenzt, noch wird seine Arbeit einer speziellen Kontrolle unterzogen, wie sie für die
anderen Bundesgeheimdienste geregelt ist.
Das heißt auch, dass es keine Vorabkontrolle durch unabhängige Gremien für besonders intensive geheime Eingriffe gibt.
Weder der für die Bundeswehr zuständige
Verteidigungsausschuss des Bundestags,
noch die/der Wehrbeauftragte oder die Bundesbeauftragte für den Datenschutz können
solche speziellen Geheimdienst-Kontrollen
ersetzen. Bis zum Antritt der später gescheiterten Ampelkoalition (2021) vertraten die
früheren Bundesregierungen noch die Auffassung, das MilNW brauche gar keine spezielle Gesetzesgrundlage, weil es „verfassungsunmittelbar“ durch das Grundgesetz
abgesichert sei – und zwar über den in Artikel 87a GG formulierten militärischen Verteidigungsauftrag, der auch dessen nachrichtendienstliche Absicherung umfasse.
Doch dies widerspricht dem Legalitätsprinzip des Grundgesetzes, wonach Grundrechtseingriffe durch die öffentliche Gewalt
einer klaren gesetzlichen Ermächtigung bedürfen, die auch Bedingungen und Grenzen
staatlichen Handelns regelt.
Und so haben wir es tatsächlich mit einem
jahrzehntelangen rechtsstaatswidrigen Zustand zu tun, der zu weitgehend gesetzlosen
und damit illegalen Grundrechtseingriffen
führt, die weit über die Bundesrepublik hinausreichen. Im Kontext von Krisenprozessen und neuen Kriegen, der Ausrufung der
„Zeitenwende“ und einer gewaltigen Aufrüstung der Bundeswehr werden die ungeregelten Aufklärungs- und Überwachungsmöglichkeiten des MilNW gegenwärtig
enorm ausgeweitet und intensiviert. Schon
bislang arbeiten rund 7.000 Bedienstete direkt oder indirekt für dessen Aufklärungsaktivitäten – dies ist mehr Personal, als dem
Auslandsgeheimdienst BND zur Verfügung
steht und damit ist das MilNW der größte
bundesdeutsche Geheimdienst.
Im Koalitionsvertrag der Ampelregierung
war übrigens noch eine große Reform des
gesamten Nachrichtendienstrechts für die
Legislaturperiode 2021 bis 2025 festgeschrieben. Danach sollten alle Geheimdienste des Bundes auf den Prüfstand, prekäre nachrichtendienstliche Befugnisse an
die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung
angepasst sowie die externe Kontrolle gestärkt werden. 2023 erfolgte der erste Reformschritt mit der Novellierung des Bundesverfassungsschutz- und des BND
Gesetzes; 2024 sollte der zweite Schritt erfolgen, der mit dem Auseinanderbrechen
der Ampelregierung im November 2024 gescheitert ist.
Im neuen Koalitionsvertrag von CDU /
CSU und SPD ist dazu bislang nichts zu lesen – außer dass Geheimdienste insgesamt
mit Geldern aus dem milliardenschweren
„Sondervermögen“ noch weiter ausgebaut
werden sollen. Es wäre ein Riesenskandal,
wenn der noch ausstehende zweite Teil der
Reform des Nachrichtendienstrechts nicht
so rasch wie möglich dazu genutzt würde,
das expandierende militärische Nachrichtenwesen rechtsstaatlich, also per Gesetz, zu
„zähmen“ und effektiv zu kontrollieren.
Noch besser wäre es, das MilNW angesichts jahrzehntelanger Gesetzlosigkeit und
Illegalität weitgehend abzuschalten, zumal
doch MAD und BND ohnehin weite Teile
der Arbeitsfelder des MilNW auf gesetzlicher Basis geheimdienstlich beackern und
auskundschaften (können). Schließlich geht
es in diesem ganzen Zusammenhang um
nicht weniger als um das elementare
Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes, den
Verfassungsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit, um die unabdingbare Kontrolle von
Geheimdienstarbeit sowie um den Schutz
von Grund- und Menschenrechten im In-
und Ausland. All dies ist im Fall des MilNW verfassungswidrig außer Kraft gesetzt.
Dieser Text erschien bereits im Freitag, der Wochenzeitung für Politik, Wirtschaft und Kultur vom 28 Mai 2025
Dieser Text ist die vom Autor leicht überarbeitete Fassung eines Beitrags aus dem „GRUNDRECHTE
REPORT 2025. Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland“ (erschienen am 28. Mai im Fischer
Taschenbuch Verlag, Frankfurt/M.). Herausgegeben wird der jährliche Report von zehn Bürger- und Menschen
rechtsorganisationen.
Weitere Informationen unter: www.grundrechte-report.de
Inhalt: http://www.grundrechte-report.de/2025/inhalt/
Über den Autor:
Dr. Rolf Gössner ist Publizist und Jurist, Kuratoriumsmitglied der Internationalen Liga für Menschenrechte sowie
Mitherausgeber des jährlichen "Grundrechte-Report. Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland"
und der Zweiwochenschrift für Politik/Kultur/Wirtschaft „Ossietzky“. Autor zahlreicher Bücher zu Demokratie, Innerer
Sicherheit und Bürgerrechten, zuletzt: „Datenkraken im öffentlichen Dienst. ‚Laudatio’ auf den präventiven
Sicherheits- und Überwachungsstaat“, Köln 2021. Mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Hans-Litten-Preis der
Vereinigung Demokratischer Jurist:innen (VDJ). Internet: www.rolf-goessner.de Rolf Gössner lebt in Bremen, wo er von 2007-2023 stellv. Richter am Staatsgerichtshof der Freien Hansestadt Bremen war.
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