Die Märchen von der elektronischen Patientenakte (ePA)

von Bernd Hontschik
16.11.2024



Derzeit wird die elektronische Patientenakte (ePA) in allen Medien, in der allgemeinen und der professionellen Öffentlichkeit beworben, als hinge unser aller Wohl und Wehe vom Gelingen dieser grandiosen Innovation ab. Umso erstaunlicher ist es, dass so viele der Argumente für diese zukunftsweisende Technologie verstaubt sind und aus dem letzten Jahrhundert daherkommen. Es handelt sich um Märchen.

Das Märchen Nummer eins handelt von den hohen Kosten, die durch Doppeluntersuchungen in der Arztpraxis entstehen. Das ist unglaubwürdig, denn das Budget der niedergelassenen Ärzte ist gedeckelt und im Allgemeinen nach zwei Monaten aufgebraucht. Ob eine Untersuchung also einmal, zweimal oder hundertmal gemacht wird: Das verursacht keinerlei Mehrkosten.

Das Märchen Nummer zwei handelt von den Doppeluntersuchungen im Krankenhaus. Stationäre Doppeluntersuchungen aber belasten nur den internen Etat der Krankenhäuser. Im Fallpauschalen-System ist es völlig egal, ob keine, eine oder hundert Untersuchungen durchgeführt werden, es entstehen keine Mehrkosten.

Das Märchen Nummer drei verkennt völlig, dass Krankheiten einen Verlauf haben. Beim Fiebermessen erstellt man eine Fieberkurve und muss immer wieder messen. Bei unklaren Diagnosen wird man wieder und wieder Ultraschall, Labor, Röntgen oder Computer- und Kernspintomografie zurate ziehen. Entzündungen wechseln im Ausmaß, machen wiederholte Blutkulturen erforderlich. Tumoren wachsen oder schrumpfen, tauchen woanders auf, weswegen die gleiche Untersuchung regelmäßig und von verschiedenen Ärzten wiederholt wird, um den Verlauf zu verstehen, um den Therapieerfolg zu kontrollieren. Solche „Doppeluntersuchungen“ verursachen keine Kosten, sondern sind für eine gute Medizin unverzichtbar.

Das Märchen Nummer vier handelt von Medikamenten-Interaktionen. Wechselwirkungen sind eine ernste Gefahr. Oft weiß man an der einen Stelle nichts von Verordnungen von anderer Stelle. Aber wer braucht dafür eine milliardenschwere ePA, zentral gespeichert mit der Gefahr des Datendiebstahls? Wie einfach wäre es doch, Rezepte auf der schon jahrelang vorhandenen Gesundheitskarte abzuspeichern, die einen Warnhinweis ausgeben könnte, wenn unvereinbare Medikamente verordnet werden.

Das Märchen Nummer fünf handelt von den Gesundheitsdaten, die mit der ePA endlich zur Verfügung stehen werden, damit die Medizin in Quantensprüngen besser werden kann. Was aber sind Gesundheitsdaten? Das sind die ambulanten Abrechnungsdaten, die in den Kassenärztlichen Vereinigungen gesammelt werden, und es sind die ICD- und OPSKodierungen, die bei den Krankenkassen von den Krankenhäusern zur Vergütung eingereicht werden. Da ich lange genug als Chirurg sowohl im Krankenhaus als auch in der Praxis gearbeitet habe, weiß ich genau, dass die meisten dieser Daten überhaupt nichts mit der Krankheitsrealität von Patient:innen zu tun haben. In der Praxis werden überall Befunde und Eingriffe überhöht, um höhere Vergütungen zu erreichen. Im Krankenhaus wird so lange an den Diagnosen und Zusatzdiagnosen herumgebogen, bis die höchstmögliche Fallpauschale erreicht ist. Wenn man nun alle diese Daten auf der ePA gesammelt und gespeichert hat, dann hat man nichts als einen riesigen Haufen Datenmüll beisammen.

Es gibt noch viel mehr Gründe, der ePA gegenüber skeptisch zu sein. Ist das wirklich die erste elektronische Anwendung weltweit, die nicht gehackt werden kann? Wer hilft alten Menschen im Umgang mit dieser Technik, zu der man automatisch eingesaugt wird, wenn man nicht ausdrücklich digital (!) widersprochen hat? Ist der Besitz eines Smartphones neuerdings Bürgerpflicht? Und wen geht es außer den Ärztinnen und Ärzten meines Vertrauens an, dass ich HIV-positiv bin, dass mich immer wieder Depressionen niederdrücken, dass ich potenzfördernde Mittel brauche und mehrere Aufenthalte in psychiatrischen Kliniken wegen Burn-out hinter mir habe? Wer beherrscht die Technik, Diagnosen oder Therapien nur für bestimmte, nicht für alle Ärztinnen und Ärzte unleserlich zu machen?

Letztlich stellt sich die Frage, wem das alles nützt. Viele Milliarden, man spricht von zehn, sind schon in die Kassen der IT-Industrie geflossen. Und viele, vielleicht auch alle Daten, werden in die „Wissenschaft“ fließen, womit am ehesten die Pharmaindustrie gemeint ist. Und das alles zusammen wird außerdem in einen gemeinsamen europäischen Datenraum eingespeist, der für uns gänzlich unkontrollierbar ist. Ohne mich.

Der Beitrag erschien bereits als Kolumne "Aufgerollt" Nr. 23-C in der Ärztezeitung Nov. 2024

Weitere Hintergrundinformationen:
https://widerspruch-epa.de/widerspruchs-generator/
https://www.verbraucherzentrale.de/wissen/gesundheit-pflege/krankenversicherung/elektronische-patientenakte-epa-digitale-patientenakte-fuer-alle-kommt-57223
https://plus.rtl.de/podcast/stern-investigativ-cmb3ez0cfmobt/1-eingeschleust-in-die-gesundheitsfabrik-c9jgxbqdm3nuy



Mehr zum Autor: Eine Rezension des aktuellen Buches von Bernd Hontschik "Heile und Herrsche" findet man hier

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