Erkranken schadet Ihrer Gesundheit
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Buchempfehlung: "Heile und Herrsche! Eine gesundheitspolitische Tragödie. Von Bernd Hontschik *, Westend Verlag 2022




von Helmuth Weiss


In seinem neuen Buch zieht Bernd Hontschik eine ernüchternde und erschreckende Bilanz unseres Gesundheitswesens. Dem Anspruch nach dem Wohlergehen der Menschen verpflichtet, hat sich unser Gesundheitswesen längst zu einer Gesundheitswirtschaft entwickelt, die dem Profitdenken unterworfen ist. Medizinische Entscheidungen wurden und werden zunehmend dadurch bestimmt, ob und inwieweit sie möglichst hohen Profit abwerfen. Renditedenken bestimmt die Abläufe, zum Schaden eines Großteils der Bevölkerung.

Doch Hontschik geht noch weiter: Wir können nicht nur den Übergang zu einer Gesundheitswirtschaft mit all ihren negativen Erscheinungsformen beobachten, sondern am Horizont taucht der nächste Schritt auf, der Übergang zu einer Gesundheitsherrschaft. „Wenn aber der nächste Schritt, der zu einer Gesundheitsherrschaft führen kann, am Horizont aufscheint, ist nicht mehr allein das Gesundheitswesen in Gefahr. Dann ist die Gesundheitspolitik nur noch eine Tragödie und Teil eines größeren Plans. Dann geht es nicht mehr um Medizin, nicht mehr um Kranke und Krankheiten. Dann ist eines der wichtigsten Fundamente unserer Gesellschaft bedroht.“ (S. 131).

Der Autor zeichnet dieses erschreckende Bild unseres Gesundheitswesens anhand verschiedener Teilbereiche, teils durch statistisches Zahlenmaterial belegt, teils anhand von Einzelbeispielen. Er behandelt das System der Vergütungssysteme ebenso wie die Entwicklung in der Pflege und in den Krankenhäusern, die fast uneingeschränkte Macht der Pharmaindustrie und den Problemkomplex der Digitalisierung in der Medizin.

Die folgenden Beispiele aus dem Buch dokumentieren ausschnitthaft, wie weitgehend reines Profitdenkens bereits unser Gesundheitswesen dominiert und in seiner Wirksamkeit untergräbt.

Versicherungspflicht und Solidarprinzip sind die Grundpfeiler der gesetzlichen Krankenversicherung, und das seit weit über 100 Jahren. Mehr und mehr werden diese Prinzipien aufgeweicht und ausgehebelt – dem Profitstreben sei Dank. „Durch die zunehmende Einführung von Eigenanteilen und Zuzahlungen ist ein direkter Geldtransfer zunächst kleinen, aber ständig wachsenden Ausmaßes zwischen Patienten und Ärzten, Krankenhäusern, Krankengymnasten und Apothekern inzwischen zur Regel geworden. Jede Art von Zuzahlung ist eine Unterhöhlung des Solidarsystems und grundsätzlich nur eine ordnungspolitische, nie aber eine sozialpolitische Maßnahme.“

(S. 33f). „Selber schuld“ heißt es immer öfter in der gesundheitspolitischen Debatte, das Schuldprinzip als Gegenteil des Solidarprinzips bricht Dämme im Gesundheitswesen, die nie wieder geschlossen werden können. Lungenkrebs durch Rauchen, Knochenbruch beim Skifahren, Hautkrebs durch Sonnenbaden, schwer verletzt durch einen Unfall beim Autofahren – letztendlich alles selbst verschuldet ? Die Folge: Jede und jeder ist sich selbst der nächste, Gesundheit gibt’s nur noch für Vermögende und Gehorsame, sonst droht Strafe. Wenn selbst Zeitgenossen wie Rainer Schlegel, Präsident des Bundessozialgerichts ungeimpfte Covid-19-Erkrankte an den Behandlungskosten beteiligen möchten so wie damals der CSU-Politiker Peter Gauweiler AIDS-Kranke auf einer Insel absondern wollte und der einstige Gesundheitsminister Horst Seehofer sie in speziellen Heimen konzentrieren wollte, so zeigt sich, wie weit Asozialität als Wertorientierung in unserer Gesellschaft bereits Raum gewonnen hat.

Ein weiteres Beispiel, wie stark unsolidarische Strukturen bereits Einzug in unsere Gesellschaft erhalten haben, ist das System der privaten Krankenversicherungen in Deutschland. Etwa 10 Prozent unserer Bevölkerung sind privat versichert, im wesentlichen sind es die Besserverdienenden, die sich aus der solidarischen gesetzlichen Krankenversicherung verabschiedet haben und sich dadurch eine bessere medizinische Behandlung erhoffen. „Laut einer Bertelsmann-Studie verlieren die gesetzlichen Krankenversicherungen durch dieses beschönigend „Duales System“ genannte Konzept bis zu neun Milliarden Euro im Jahr. Sie könnten den allgemeinen Beitragssatz um 0,7 Prozent senken, wenn alle Bundesbürger:innen gesetzlich krankenversichert wären. Das ist das krasse Gegenteil von Solidarität.“ (S.41f).

Einsame Spitze ist Deutschland mit diesem unsolidarischen Prinzip, und man lässt sich hierzulande auch nicht davon beeindrucken, dass es in anderen Ländern wie Frankreich, Italien oder Dänemark auch anders funktionieren kann, ohne sich aus dem Solidarsystem zu verabschieden. Aber wie in vielen Bereichen scheint auch hier unser „Wertepartner“ USA als Vorbild zu dienen – auf Kosten der Mehrheit der Bevölkerung: „Die Zahl der Nichtversicherten ((in den USA)) ist unüberschaubar hoch. 60 Prozent aller Privatinsolvenzen in den USA sind durch Krankheitsereignisse verursacht. Es gibt in den westlichen Staaten kein anderes Gesundheitssystem, das auf der einen Seite so teuer ist und auf der anderen Seite die krassen gesellschaftlichen Unterschiede zwischen Arm und Reich so direkt in der Gesundheitsversorgung widerspiegelt wie das der USA“ (S. 47).

Hontschik zeichnet den Prozess nach, wie der Prozess der Entsolidarisierung und das Primat der Profitmaximierung unser Krankenhaussystem erfasste. Die Folge: Zehntausende von Pflegekräften haben das Gesundheitswesen verlassen, die Interessen von häufig international tätigen Investoren bestimmen das Geschehen in unseren Krankenhäusern. „Man kann ohne Übertreibung sagen, dass die Krankenhausmedizin inzwischen zu einer Art von getaktetem Fließbandbetrieb geworden ist und auch in Arztpraxen werden die medizinischen Entscheidungen inzwischen mehr und mehr ökonomischen als medizinischen Kriterien unterworfen. (S. 69f). Immer mehr breiten sich sogenannte Medizinische Versorgungszentren aus (MVZ), finanziert häufig durch branchenfremde Kapitalgeber, die eine entsprechende Rendite erwarten.

Das Wissen um die unendliche Gier der großen Pharmafirmen gehört spätestens seit Corona zum Alltagswissen. Hontschik demonstriert das an mehreren Beispielen, vom Contergan-Skandal über Oxycodon bis hin zum Umgang mit Corona, wo „man eine Freigabe der Impfstoffpatente kategorisch ablehnte und bis heute verhindern konnte, selbst wenn das zum eigenen Schaden führt.“ (S.85). Eindeutig ist seine Beurteilung der Pharmaindustrie: „Es gibt kein Verbrechen, dessen sich die Pharmaindustrie noch nicht schuldig gemacht hat….Zwei Drittel aller Pharmafirmen (sind) von Wirtschaftskriminalität betroffen.“ (S.73). Hontschik räumt auch mit einem Vorurteil auf: „Entgegen einer weit verbreiteten Meinung verdankt die Menschheit fast alle Fortschritte der medikamentösen Behandlung von Krankheiten Wissenschaftlern in Universitäten und begnadeten einzelnen Forschern, nicht aber den Laboren der Pharmaindustrie. Die Pharmaindustrie kauft solche Erkenntnisse auf und weiß sie als eigene Leistungen...zu verkaufen, weiß vor allen Dingen, wie sie gewinnbringend zu vermarkten sind. Dass es dabei weder um Anstand noch um Moral geht, dürfte bekannt sein. „ (S. 74f).

Dabei gäbe es schon einfache, kleine Schritte für eine vernünftige Gesundheitspolitik, wie z. B. eine Positivliste, die es fast überall gibt, nur nicht in Deutschland. In ihr „werden Medikamente aufgeführt, deren Nutzen unbestritten und deren Kosten vertretbar sind.“ (S.90).

Die zunehmenden Eingriffe der Politik in Gesundheitsfragen, die kritische Meinungen ausschließt und diskriminiert, Meinungsvielfalt nicht mehr toleriert, wie während der Corona-Pandemie deutlich wurde, zeigen für den Autor, dass wir es zunehmend mit einer Form der Gesundheitsherrschaft zu tun haben, die die Fundamente unserer Gesellschaft bedroht.

Der Frage, wie unser Gesundheitssystem in der Zukunft aussehen könnte, widmet der Autor nur wenig Raum. Er nennt Stichworte wie Bürgerversicherung, Befreiung der medizinischen und pflegerischen Arbeit vom ökonomischen Diktat, die Forderung nach einem flächendeckenden nationalen Krankenhausplan sowie die Forderung: „Die alleinige Betriebsform aller Krankenhäuser ist die Gemeinnützigkeit….Eine Entnahme von Geldern zum Zwecke der Dividendenzahlung ist Diebstahl und wird strafrechtlich verfolgt.“ (S. 134). Die Kürze dieser Forderungen ist nur konsequent: Denn welche politisch relevante Kraft möchte und könnte sie durchsetzen ?

Bernd Hontschiks Buch gibt einen guten Überblick über das Dilemma unseres Gesundheitswesens und macht klar, dass deren negative Entwicklung noch keineswegs an ihrem Tiefpunkt angelangt ist. Ein wichtiges Buch für jede(n), der die gesundheitspolitische Tragödie unserer Zeit verstehen möchte.

*Bernd Hontschik

Dr. med. Bernd Hontschik, geb. 1952, war bis 1991 Oberarzt an der Chirurgischen Klinik des Krankenhauses Frankfurt-Höchst und bis 2015 in eigener chirurgischer Praxis tätig. Er ist Autor des Buches "Erkranken schadet Ihrer Gesundheit" und Herausgeber der Reihe "medizinHuman" im Suhrkamp Verlag. Er schreibt Kolumnen in der Frankfurter Rundschau, ist Mitglied bei der Uexküll-Akademie (AIM), bei mezis und bei der IPPNW und im wissenschaftlichen Beirat der Zeitschrift "Chirurgische Praxis". www.hontschik.de/chirurg

Zum Buch: "Heile und Herrsche! Eine gesundheitspolitische Tragödie ", Westend-Verlag 2022, 144 Seiten, 18 Euro. Erhältlich im Buchhandel oder online direkt hier beim Verlag.

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