Vor wenigen Tagen ist der §218 einhundertundfünfzig Jahre alt geworden. Seit einhundertundfünfzig Jahren wogt eine große gesellschaftliche Diskussion über diesen Paragraphen hin und her. Solange Männer die politischen Entscheidungen in unserem Land dominieren, wird eine Lösung im Sinne der Selbstbestimmung von Frauen in weiter Ferne bleiben.
von Bernd Hontschik*
18.01.2021
Vor wenigen Tagen ist der §218 einhundertundfünfzig
Jahre alt geworden. Seit einhundertundfünfzig Jahren wogt
eine große gesellschaftliche Diskussion über diesen Paragraphen
hin und her. Solange den Rechten der Frauen
nicht oberste Priorität eingeräumt wird, solange wird diese
Diskussion weitergehen. Solange Männer die politischen
Entscheidungen in unserem Land dominieren, wird eine
Lösung im Sinne der Selbstbestimmung von Frauen in weiter
Ferne bleiben.
Da kann der §219a nicht mithalten. Er ist
mit achtundachtzig Jahren vergleichsweise jung. Dieses
kleine, schmutzige Anhängsel an den §218 wurde nämlich
erst 1933, unmittelbar mit Beginn der nationalsozialistischen
Herrschaft in Deutschland, dem §218 angefügt. Man
machte sich als Ärztin oder Arzt seitdem strafbar, wenn
man öffentlich eigene
oder fremde
Dienste zur Vornahme
oder Förderung
von Schwangerschaftsabbrüchen
anbot. Für die Nationalsozialisten
war
dieser kleine Paragraph
ein Teil des
Großen und Ganzen.
Er war Teil ihrer
faschistischen Bevölkerungspolitik im Dienste des arischen
Herrenmenschen, die mit Mutterkreuz einerseits und
Zwangssterilisationen und Euthanasie andererseits über
Leben oder Tod, über Vermehrung oder Vernichtung bestimmte.
Nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus war
der §219a jahrzehntelang kein Thema mehr und geriet in
Vergessenheit. Erst 2017 wurde das faschistische Fossil von
sogenannten Lebensschützern wieder ausgegraben. Sie
erstatteten Anzeige gegen die Gießener Ärztin Kristina
Hänel, weil diese auf ihrer Homepage unter anderem auch
über Schwangerschaftsabbrüche informierte. Kristina
Hänel wurde vom Amtsgericht Gießen dafür zu einer Geldstrafe
von 6000 Euro verurteilt. Im Oktober 2018 bestätigte
das Landgericht Gießen das Urteil. Im Juli 2019 hob es
das Oberlandesgericht Frankfurt wieder auf und verwies
das Verfahren zurück nach Gießen: Es sei nicht auszuschließen,
dass die zwischenzeitliche Novellierung des
§219a ein anderes Urteil ergeben könnte. Zwischenzeitlich
hatten sich tatsächlich fünf Minister:innen auf einen Kompromiss
geeinigt, der an der Strafbarkeit aber nichts änderte.
Diese Novellierung war ein fauler großkoalitionärer
Kompromiss. Es wurde lediglich bei der Bundesärztekammer
eine nackte Adressenliste von Ärztinnen, Ärzten und
Kliniken eingerichtet, mit der sich Frauen in ihrer Notlage
auf die Suche begeben können: Mehr haben fünf Minister:
innen nicht zustande gebracht. Sie sollten sich schämen.
Mit einer wirklichen juristischen Neubewertung ist
für Kristina Hänel also auch jetzt nicht zu rechnen. Im Falle
einer erneuten Verurteilung wird sie das Bundesverfassungsgericht
anrufen.
Die ersatzlose Streichung des §219a hat mit der Diskussion
um den §218 nichts zu tun. Der §219a stellt eine fundamentale
Selbstverständlichkeit jeder ärztlichen Berufsausübung
unter Strafe. Ärztinnen und Ärzte machen sich auch
nach der Novellierung weiterhin strafbar, wenn sie öffentlich
mitteilen, dass und wie sie in ihrer Klinik oder Praxis
Schwangerschaftsabbrüche durchführen. Der §219a verhindert,
dass sich betroffene Frauen informieren können.
Er verhindert, dass sie sich für eine Ärztin oder einen Arzt
ihres Vertrauens entscheiden können. Wenn eine Frau
über den Abbruch einer Schwangerschaft entscheiden
muss und über die Methode, mit der dies geschehen soll,
so ist die unbedingte Voraussetzung dafür umfassende
Information. Aber ausgerechnet in einer so schwierigen
Lebenssituation werden Frauen weiterhin daran gehindert,
eine für sie passende Beratung und Unterstützung zu finden.
Der §219a muss ersatzlos gestrichen werden.
*Bernd Hontschik
Dr. med. Bernd Hontschik, geb. 1952, war bis 1991 Oberarzt an der Chirurgischen Klinik des Krankenhauses Frankfurt-Höchst und bis 2015 in eigener chirurgischer Praxis tätig. Er ist Autor des Bestsellers "Körper, Seele, Mensch" und Herausgeber der Reihe "medizinHuman" im Suhrkamp Verlag. Er schreibt Kolumnen in der Frankfurter Rundschau, ist Mitglied bei der Uexküll-Akademie (AIM), bei mezis und bei der IPPNW und im wissenschaftlichen Beirat der Zeitschrift "Chirurgische Praxis". www.hontschik.de/chirurg
Letzte Veröffentlichungen: "Erkranken schadet Ihrer Gesundheit", Westend-Verlag 2019, "Kein Örtchen. Nirgends." Westend-Verlag 2020.
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