Erkranken schadet Ihrer Gesundheit
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Die Corona Pandemie hat unser Gesundheitssystem erneut in den Vordergrund der öffentlichen Debatte gebracht. Plötzlich wird den Pflegekräften Beifall gespendet und Anerkennung entgegengebracht. Doch das wird nicht von langer Dauer sein, denn unser Gesundheitswesen ist schon lange malade und ernsthafte Ansätze zu einer Veränderung sind im politischen Raum kaum zu entdecken.

Der erfahrene Chirurg Bernd Hontschik prangert die Umwandlung unseres Gesundheitssystems in eine profitorientierte Industrie mit all ihren "kranken" Begleiterscheinungen seit vielen Jahren an und fordert dazu auf, zur eigentlichen Bestimmung der Medizin zurückzukehren.
Wir dokumentieren im Folgenden das letzte Kapitel seines Buches, das einen desillusionierenden Blick auf unser Gesundheitssystem wirft. (hw)

"Erkranken schadet Ihrer Gesundheit"


(Ein Auszug aus dem Buch "Erkranken schadet Ihrer Gesundheit", Westend Verlag 2019, mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlags)

von Bernd Hontschik *


Das ganze große Schiff »Gesundheitswesen« wird in die falsche Richtung gesteuert. Kleine Kurskorrekturen werden nicht helfen. Es muss zu einer radikalen Kursänderung kommen, sonst wird dieses solidarische Gesundheitswesen untergehen, und mit ihm die Humanmedizin.

Blicken wir noch einmal in den ambulanten Bereich: Ich war immer wieder erstaunt bis fassungslos, dass Patient*innen in meine Sprechstunde kamen und von Konsultationen berichteten, bei denen ihr Arzt kein Wort mit ihnen geredet hatte. Kein einziges Wort. Der einsame Patient. Andere Patient*innen waren mit Bauchschmerzen beim Hausarzt, der ihnen gleich eine Überweisung zum Chirurgen mit der Diagnose »Appendizitis« in die Hand gedrückt hat, keine Anamnese, keine körperliche Untersuchung, einfach eine Überweisung. Andere Patient*innen berichteten von Konsultationen, bei denen ihre Ärzt*in fast die ganze Zeit auf den Bildschirm ihres Computers gestarrt hat. Fragen gab es viele, Antworten wenige, und am Schluss ein Rezept. Patient*innen berichten von Ärzt*innen, die ihnen Injektionen und Eingriffe vorgeschlagen haben, deren Kosten die Patient*innen selbst tragen mussten. Am weitesten verbreitetes Beispiel ist die Hyaluronsäure-Injektion ins Kniegelenk – teuer, unwirksam, riskant. Überall allein gelassene, einsame, noch dazu für Profit missbrauchte Patient*innen. Die Aufzählung ließe sich beliebig verlängern.

Es könnte auch eine andere Aufzählung geben. Patient*innen kommen gründlich untersucht und mit einer klaren Fragestellung zu einer Beratung über eine mögliche Operation in meine Praxis. Sie sind nicht einsam. Sie berichten von fürsorglichen und kompetenten Hausärzt*innen, bei denen sie sich wirklich aufgehoben fühlen. Eine Äußerung des Kardiologen Bernard Lown fällt mir ein, der sagte, dass es die schwierigste und wichtigste Aufgabe von Patienten sei, einen Arzt zu finden, bei dem man sich mit seinen Beschwerden aufgehoben fühle. Als Patient* in muss man eine Ärztin oder einen Arzt finden, wo es passt, wo die Passung gelingen kann. Einsamkeit kann man nicht operieren. Verzweiflung kann man nicht mit Medikamenten oder Apparaten behandeln. Und in einem Disease Management Programm, dem sich Herzkranke heute zu unterwerfen haben, hat Aussichtslosigkeit auch keinen Platz, kommt gar nicht vor. Und wie erst sollen diese Hochrisikofaktoren auf einer elektronischen »Gesundheitskarte« abgespeichert werden? Trotzdem: Im ambulanten, insbesondere im hausärztlichen Bereich gibt es viele, vielleicht sogar die Mehrzahl von Patient*innen, denen das Kunststück gelingt, eine*n passende*n Hausärzt*in zu finden. Sie sind nicht einsam, denn ihre Hausärzt*innen weisen ihnen einen Weg im Dickicht des Gesundheitswesens.

Blicken wir auch noch einmal in den stationären Bereich: Es ist inzwischen wohl überall bekannt, dass das Bezahlsystem in den Krankenhäusern von den früher üblichen Tagessätzen auf das DRG-System umgestellt worden ist. In diesem System werden die Geldflüsse nach Diagnosen gesteuert, und inzwischen stehen in unserem Land Legionen voll approbierter Ärzt*innen im Controlling der Krankenhäuser anderen Legionen voll approbierter Ärzt*innen im Medizinischen Dienst der Krankenkassen gegenüber, um möglichst viel Geld zu erhalten bzw. möglichst wenig Geld zahlen zu müssen. Diese Legionen von Ärzt*innen sind für die Medizin verloren. Ob allerdings inzwischen überall bekannt ist, dass es auf diesem Erdball kein Land gibt, in dem der Anteil von Krankenhausbetten in der Hand privater, börsennotierter Klinikkonzerne größer ist als in Deutschland, bin ich mir nicht so sicher. Diese Klinikkonzerne zahlen ihren Shareholdern Dividenden von bis zu zehn Prozent. Solche Profite sind in keinem anderen Wirtschaftszweig erreichbar, und dieses Geld wird dem Gesundheitswesen entzogen. Ob allerdings alle mit mir einer Meinung sind, dass das einen – wenn auch legalisierten – Diebstahl öffentlichen Eigentums darstellt, wage ich zu bezweifeln. Und ob allgemein bekannt ist, dass heutzutage in den Arbeitsverträgen von Chefärzten von Leitzahlen bei Diagnosen und Operationsziffern, vom Case Mix Index und von Akquisitionsverpflichtungen die Rede ist und gar nicht mehr von der Medizin, glaube ich auch nicht.

Es hat in den letzten zwanzig, dreißig Jahren einen gewaltigen Stellenabbau im Krankenhaus gegeben, besonders im Pflegebereich. Gleichzeitig ist die durchschnittliche Liegezeit von zwei Wochen auf eine Woche gesunken ist, auf die Hälfte also! Alle kennen die Berichte von Patient*innen nach Krankenhausaufenthalten, dass sie fast nie einen Arzt oder eine Ärztin zu Gesicht bekommen haben, dass fast nie jemand Zeit für ein Gespräch hatte, dass Schwestern und Pfleger bis zum Anschlag und darüber hinaus arbeiten, und dass es trotzdem immer nicht genug ist. Von »blutigen Entlassungen« ist die Rede, also Entlassungen lange vor einer ausreichenden Heilung, um nach Hause gehen zu können. In dieser Aufzählung, die sich endlos fortsetzen ließe, kommt ein Patient gar nicht mehr vor. Wenn man gar nicht mehr vorkommt, ist man einsam.

Unter dem Stichwort »Einsamkeit« findet man bei Wikipedia: »Der Begriff Einsamkeit bezeichnet die Empfindung, von anderen Menschen getrennt und abgeschieden zu sein. Die Bewertung dieses Sachverhalts kann sehr unterschiedlich ausfallen, je nachdem, aus welchem Blickwinkel man ihn betrachtet: Während die Sozialwissenschaften in der Einsamkeit überwiegend eine Normabweichung und einen Mangel erblicken, billigen die Geisteswissenschaften der Einsamkeit auch positive Aspekte zu, im Sinne einer geistigen Erholungsstrategie, die notwendig sein kann, um die Gedanken zu ordnen oder Kreativität zu entwickeln.« Normabweichung und Mangel oder Quelle der Erholung und Kreativität – das kenne ich so nicht. Ich konnte Einsamkeit noch nie etwas Positives abgewinnen. Die hier erwähnte Quelle der Erholung oder Kreativität würde ich niemals in der Einsamkeit suchen. Dafür würde ich eher den Begriff des Alleinseins benutzen. Einsamkeit ist Schicksal, Alleinsein eine Entscheidung. Und über Einsamkeit zu sprechen ist eher seltsam, denn Einsamkeit scheint mir eigentlich etwas Stilles, etwas Sprachloses, etwas von der übrigen Welt Trennendes und Getrenntes, Isolierendes und Isoliertes. Wie kann ich also Einsamkeit spürbar, greifbar machen? Die Schlagwörter »Einsamkeit« und »Krankheit«, gemeinsam in eine Internet-Suchmaschine eingegeben, ergeben weit über 300 000 Treffer. Es gibt eine nicht überschaubare Zahl von Büchern, Romanen und Sachbüchern über Einsamkeit in der Krankheit, es gibt eine große Zahl von Gemälden, Kunstwerken und Filmen über Einsamkeit.

Je länger ich nachdachte, desto näher rückte mir die Einsamkeit. Erinnerungen aus meinen langen Jahren in einer chirurgischen Klinik überfielen mich. Und ich habe immer mehr gespürt, dass dies ein entsetzliches Thema ist, entsetzlich ernst und entsetzlich traurig. Mir fiel eine Szene wieder ein, die ich bis vor kurzem, bis zur Arbeit an diesem Kapitel, längst vergessen oder verdrängt hatte: Eine Chefarztvisite stand bevor. Ich war gerade Stationsarzt geworden, worauf ich wahnsinnig stolz war. Auf diese Chefvisite war ich bestens vorbereitet. Die Röntgenbilder waren alle da, Diagnosen, Verläufe, Laborwerte und Konsiliarergebnisse hatte ich alle im Kopf. Reibungslos rauschten wir durch ein Zimmer nach dem anderen. Eines der letzten Zimmer war ein Einzelzimmer. Dort lag ein älterer Herr mit Dickdarmkarzinom, nach dessen Operation es zu einer Sekundärheilung mit Fistelbildung gekommen war. Die Operation war eine sogenannte »Probelaparotomie« gewesen, denn nach Eröffnung des Bauchraumes fand sich keine Möglichkeit mehr, den weit fortgeschrittenen Tumor operativ zu entfernen. Es wurde also die Bauchdecke ohne eigentlichen Eingriff wieder verschlossen. Es war uns damals strengstens verboten, Patienten »die Wahrheit« zu sagen. Der Patient fragte den Chef, was denn die Untersuchung seines Darmes ergeben habe, und der Chef schaute auf die Patientenakte, sprach ein paar nette, aufmunternde Worte und murmelte beim Hinausgehen »extra muros«. Draußen sagte er zu mir, ich solle dem Patienten zwar sagen, dass in seinem Dickdarm ein Karzinom gefunden worden sei – ich solle dabei besser von »bösartigen Zellen« sprechen – dass bei der Operation aber der Tumor habe entfernt werden können. Nach einer halben Stunde war die restliche Visite vorbei und ich ging nach einer kleinen Pause zurück zu dem Patienten. Das Zimmer war leer. Der Infusionsständer stand noch neben dem Bett. Das Fenster stand offen. Der Patient hatte sich aus dem 10. Stock gestürzt.

Vielleicht sollte man sich vergegenwärtigen, dass Krankheit per se etwas ist, das einsam macht. Das kennt man von Patient*innen, aber auch von sich selbst. Wenn das Schicksal einer Krankheit zugeschlagen hat, gibt es plötzlich zwei Welten. Es gibt die Welt der Gesunden, in der man sich bisher ohne viel Nachdenken getummelt hat, und es gibt die Welt der Kranken. Das war bislang die Welt der anderen. Die Welt der Kranken ist eine Welt des Getrenntseins von der Welt der Gesunden, und dadurch ist sie auch eine Welt der Einsamkeit. Einmal eingetreten in die Welt der Kranken gelingt der Weg zurück nur schwer und dann zumeist beschädigt, irritiert, manchmal verängstigt, auf jeden Fall aber verändert.

So ist also aus diesem Nachwort etwas ganz anderes geworden, als ich mir das ursprünglich vorgestellt hatte. Keine laute Agitation, eher eine Bitte: Dass wir uns immer wieder darauf besinnen mögen, worum es in der Medizin eigentlich geht. Ich möchte mit all den Texten einfach nur daran erinnern, dass wir als Ärzt*innen eine Aufgabe haben. Diese Aufgabe droht heute unterzugehen, in Management-Programmen, in Codierungen, in Konzerninteressen, in Studien und im Kampf ums Geld. Wenn wir Ärzt*innen unsere Patient*innen zu Sachen, zu Werkstücken machen lassen, ist es aus mit der Medizin. Man müsste Ärzt*innen dann in die Rote Liste der bedrohten Arten aufnehmen. Unsere Aufgabe ist die Begleitung unserer Patient*innen in der einsamen Welt der Krankheit, oder im günstigen Fall aus der einsamen Welt der Krankheit – so weit es eben geht – zurück in die Welt der Gesundheit, der Selbstvergessenheit, wie der Philosoph Hans-Georg Gadamer das genannt hat. Und deswegen sind alle Texte mit einem roten Faden verbunden, haben die immer wieder gleiche Botschaft:

Bewahrung der Humanmedizin vor der Deformation des Maschinendenkens!

Rettung des solidarischen Gesundheitswesens vor dem Würgegriff des Kapitalismus!



*Bernd Hontschik

Dr. med. Bernd Hontschik, geb. 1952, war bis 1991 Oberarzt an der Chirurgischen Klinik des Krankenhauses Frankfurt-Höchst und bis 2015 in eigener chirurgischer Praxis tätig. Er ist Autor des Bestsellers "Körper, Seele, Mensch" und Herausgeber der Reihe "medizinHuman" im Suhrkamp Verlag. Er schreibt Kolumnen in der Frankfurter Rundschau, ist Mitglied bei der Uexküll-Akademie (AIM), bei mezis und bei der IPPNW und im wissenschaftlichen Beirat der Zeitschrift "Chirurgische Praxis". www.hontschik.de/chirurg

Zum Buch: "Erkranken schadet Ihrer Gesundheit", Westend-Verlag 2019, 160 Seiten, 16 Euro. Erhältlich im Buchhandel oder online direkt hier beim Verlag.

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