von Bernd Hontschik
25.03.2024
Sie sind Mitglied in einer Gesetzlichen Krankenkasse, wie
90 Prozent der Bevölkerung? Sie gehen davon aus, dass Ihr
Krankenkassenbeitrag auch bei Ihrer Krankenkasse landet,
bei der Sie Mitglied sind? Das ist ein Irrtum. Leider ist ja die
Gesundheitspolitik hinter den großen Krisen unserer Zeit
kaum noch zu sehen, und wenn, geht es entweder um die
völlig missglückte Krankenhausrevolution oder um Cannabis.
Dabei ist der aktuelle Zuschnitt der Gesetzlichen Krankenversicherungen
nach wie vor ein Skandal, ein teurer
noch dazu. Obwohl alle Krankenkassen einen völlig identischen
Auftrag haben, nämlich Gesundheit erhalten, wiederherstellen
und verbessern, leisten wir uns in Deutschland
den Luxus von 95 Gesetzlichen Krankenkassen. Immerhin
ist das schon ein Fortschritt: Gab es Ende des 19.
Jahrhunderts noch Tausende von Kassen, Orts-, Betriebs-,
Fabrik-, Bau- Innungs-, Knappschafts-, Hilfskassen und Gemeinde-
Krankenversicherungen, später noch dazu die Ersatzkassen
für Angestellte, so waren es 1970 noch 1815,
1990 noch 1147, im Jahr 2000 noch 420, und heute gibt es
nur noch 95 Kassen. Aus meiner Sicht sind das immer noch
94 zu viele. Eine wäre völlig genug.
Seit Jahren wird über die Umgestaltung der Gesetzlichen
Krankenversicherung gestritten. Die von der CDU favorisierte
„Kopfpauschale“ sieht einen feststehenden, für jeden
gleich hohen Versicherungsbeitrag pro Kopf vor. Das
SPD-Modell von Grünen und Linken heißt „Bürgerversicherung“:
Alle Bürger würden in die Versicherungspflicht einbezogen,
die Beitragshöhe richtete sich nach dem Einkommen.
Nach der Bundestagswahl 2005 kam es zu einer
Großen Koalition, keine der beiden Parteien konnte sich
durchsetzen. Diese zwei an sich völlig unvereinbaren Modelle
wurden daher vermischt, und heraus kam zum 1.
Januar 2009 ein Hybrid: der Gesundheitsfonds. Was ist das
eigentlich?
Sämtliche Beitragszahlungen landen seitdem nicht mehr
bei Ihrer Krankenkasse, sondern zuerst in einem großen
Topf, dem sogenannten Gesundheitsfonds. Aus diesem
Fonds erhalten die Krankenkassen nun Geldzuweisungen.
Die entscheidende Größe für die Höhe dieser Geldzuweisungen
ist die Morbidität der Mitglieder: Je mehr Kranke
und je schwerer die Krankheiten, desto höher die Zuweisung
aus dem Gesundheitsfonds.
Dazu bedurfte es nun eines komplizierten Ausgleichsystems.
Grundlage dafür ist eine Liste von mehr als achtzig
chronischen, ausgabenintensiven Erkrankungen. Je mehr
solch schwere Erkrankungen eine Krankenkasse an das
Bundesversicherungsamt melden kann, desto mehr Geld
erhält sie aus dem Gesundheitsfonds. Für dieses neu entstandene
bürokratische Ungetüm wurde der Begriff des
'Morbiditätsorientierter-Risikostrukturausgleichs' (Morbi-
RSA) erfunden.
Die Folge dieses Paradigmenwechsels war wie ein Donnerschlag
bis in die letzte Praxis des Landes zu spüren. Die
Krankenkassen waren von einem Tag auf den anderen
nicht mehr daran interessiert, möglichst gesunde Versicherte
in ihren Reihen zu haben. Im Gegenteil: je schwerer
die Krankheit, desto mehr Geld floss. Nun schwärmten
speziell ausgebildete „Berater“ über das Land und besuchten
die Arztpraxen. Ihre Botschaft war, dass ein grippaler
Infekt doch auch als Verdacht auf Lungenentzündung verschlüsselt
werden, hinter einer Schwindelattacke ein leichter
Schlaganfall stecken und ein Rückenschmerz zur rheumatischen
Erkrankung erklärt werden könnte. Das Ganze
nannte man „Upcoding“. Es gab für Ärzte und Ärztinnen
seitens der Krankenkassen sogar eine Prämie pro Fall. Obwohl
diese kriminellen Praktiken durch Whistleblower
längst bekannt geworden waren, konnte noch 2016 Jens
Baas, der Chef der mit fast zehn Millionen Mitgliedern
größten deutschen Techniker-Krankenkasse, einen Sturm
im Blätterwald auslösen, als er verkündete, dass Krankenkassen
ständig weiter „schummeln“ und Ärztinnen und
Ärzte weiterhin zu ständigem Betrug und Veruntreuung
anhalten würden.
Die Ursache für die genannten Perversionen erkennt man
schon am Namen des Gesetzes. Es hieß bezeichnenderweise
„Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen
Krankenversicherung“. Es stellt sich die Frage, worum
Krankenkassen eigentlich konkurrieren könnten? Haben
nicht alle Kassen den völlig gleichen Auftrag? Die grandiose
Idee der allgemeinen Krankenversicherung bestand
doch in der Abdeckung des ökonomischen Erkrankungsrisikos
des Einzelnen durch die Solidarität aller.
Warum gibt es heute überhaupt noch 95 Krankenkassen,
95 Verwaltungungsapparate, 95 Verwaltungssitze mit 95
Vorständen und 95 Aufsichtsgremien? Ist nicht der Gesundheitsfonds
selbst schon Beweis genug, dass es nur
einer einzigen Krankenkasse bedarf, auch wenn das sicherlich
nicht die Absicht seiner Erfinder war. Aber statt jetzt
den einmal geschaffenen Gesundheitsfonds umgehend als
einheitliche Krankenversicherung zu nutzen, wird das zentral
gesammelte Geld mit größtmöglichem bürokratischem
Aufwand wieder in die alten Strukturen hinein aufgeteilt:
Ein Schildbürgerstreich, eine Geldverschwendung und Bürokratie
pur.
Mehr zum Autor: Eine Rezension des aktuellen Buches von Bernd Hontschik "Heile und Herrsche" findet man hier
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