von Bernd Hontschik
28.02.2024
Es ist schon lange her, aber ich habe es bis heute
nicht vergessen: Vor fünfzehn Jahren hatte ich das
Glück, den weltberühmten Kardiologen Bernard
Lown in Boston besuchen zu dürfen. Als wir uns
über die Entstehung von Krankheiten austauschten,
sagte er: „Ich habe mich mein ganzes Leben als Arzt
mit den Krankheiten von Herz und Kreislauf beschäftigt,
mit den Menschen, die herzkrank werden.
Risikofaktoren, über die ständig geforscht und gesprochen
wird, Cholesterin, Bluthochdruck usw.
sind nebensächlich. Für das Entstehen so vieler
Herz-Kreislauf-Krankheiten sind traurige, tragische
Lebensumstände verantwortlich: Einsamkeit, Verzweiflung
und Aussichtslosigkeit." Das hatte ich
bislang so noch nicht gehört, und von einem der
führenden Kardiologen hatte ich das schon gar nicht
erwartet. Cholesterin nebensächlich? Hoher Blutdruck
nicht so wichtig? Ich begann, mich mit dem
Zusammenhang von Einsamkeit und Krankheit zu
beschäftigen und stieß alsbald auf ein uraltes, sozusagen
konstituierendes Dilemma des Arztberufes.
Wenn man weiß, dass insbesondere nächtlicher
Fluglärm chronisch hohen Blutdruck verursacht,
was sage ich einem davon betroffenen Patienten?
Ist es sinnvoll, hohen Blutdruck zu behandeln, ohne
die wirkliche Ursache, also den Fluglärm zu bekämpfen?
Wenn man weiß, dass Herzinfarkte,
Schlaganfälle, Diabetes oder Depressionen bei
Menschen, die in Armut leben, sehr viel häufiger
vorkommen; wenn man weiß, dass die mittlere Lebenserwartung
bei Geburt bei armen Frauen mehr
als vier Jahre geringer ist als bei Wohlsituierten, bei
Männern beträgt diese Differenz sogar mehr als
acht Jahre, wie kann ich armen Menschen helfen?
Wenn ich ihre Symptome behandle und die Ursache
außer Acht lasse? Wenn man weiß, dass hohe Luftverschmutzung
die durchschnittliche Lungenkapazität
einschränkt, Atemwegserkrankungen verursacht
und eine Verkürzung der Lebenserwartung aufgrund
von Herz-Kreislauf- und Atemwegserkrankungen
einschließlich Lungenkrebs bewirkt,
wie lautet mein ärztlicher Rat? Wenn man weiß,
dass schon Lärmpegel von 80 bis 85 dB zu dauerhaften
Gehörschäden führt, was rate ich Patienten, die
an einer vielbefahrenen Straße oder gar in der Nähe
einer Autobahn wohnen, wo solche Werte die Regel
sind?
So ist es
auch mit der
Einsamkeit.
Man sieht
jemandem
die Einsamkeit
ja nicht
an. Diese
andauernde
verlorene Verbindung zur Welt ist unsichtbar. Einsamkeit
ist keine Krankheit. Einsamkeit macht
krank. Sie ist ein riesiges, immer größer werdendes
Problem, in letzter Zeit noch potenziert durch ein
unterschiedliches Ausmaß an Isolation während der
Corona-Pandemie. In Großbritannien und in Japan
gibt es seit einigen Jahren sogar ein Ministerium für
die Bekämpfung von Einsamkeit. Ärzte können dort
auf Rezept soziale Aktivitäten verschreiben. Auch
hier zeigt sich wieder das Dilemma der ärztlichen
Tätigkeit: Bekämpfe ich die Ursachen oder behandele
und beschwichtige ich nur das Symptom?
In der Medizinerausbildung fristet die Sozialmedizin
bis heute ein kümmerliches Dasein. Eine Medizin
gegen Fluglärm, Luftverschmutzung, Einsamkeit
oder Armut gibt es nicht und wird es wohl auch nie
geben. Zu aller Nutzen wäre es aber, wenn es mehr
Medizinerinnen und Mediziner gäbe, die außer der
– unverzichtbar wichtigen – Behandlung der Symptome
auch die eigentlichen Krankheitsursachen im
Blick haben. Dieses Wissen braucht kompetente
Verbreitung.
Mehr zum Autor: Eine Rezension des aktuellen Buches von Bernd Hontschik "Heile und Herrsche" findet man hier
Das Versagen der Krankenhausfinanzierung: Ein Kahlschlag mit System
Deutschland hat ein duales Krankenhausfinanzierungssystem, die finanziellen Mittel stammen aus zwei Quellen. Für Bau, Unterhalt und Investitionen sind die Bundesländer zuständig. Die laufenden Kosten für Personal oder Material tragen die Krankenkassen. Beide Säulen der Finanzierung werden seit Jahren auf groteske Weise vernachlässigt und untergraben, so dass ein Zerstörungsprozess in der Krankenhauslandschaft die zwangsläufige Folge ist.
Weiter lesen...
§ 219a - Das kleine schmutzige Anhängsel
Vor wenigen Tagen ist der §218 einhundertundfünfzig Jahre alt geworden. Seit einhundertundfünfzig Jahren wogt eine große gesellschaftliche Diskussion über diesen Paragraphen hin und her. Solange Männer die politischen Entscheidungen in unserem Land dominieren, wird eine Lösung im Sinne der Selbstbestimmung von Frauen in weiter Ferne bleiben.
Weiter lesen...
Erkranken schadet Ihrer Gesundheit
Der erfahrene Chirurg Bernd Hontschik prangert die Umwandlung unseres Gesundheitssystems in eine profitorientierte Industrie mit all ihren "kranken" Begleiterscheinungen seit vielen Jahren an und fordert dazu auf, zur eigentlichen Bestimmung der Medizin zurückzukehren.
Weiter lesen...
Corona-Virus in der EU: Gesundheitssysteme nicht vorbereitet
Sars-Cov2 ist die aktuelle Variante des seit Jahrzehnten bekannten Corona-Virus. Er war so ähnlich schon ein paar mal aufgetaucht, 2003 als SARS, 2012 als MERS. Vor neuen Varianten wurde seit den 1990er Jahren gewarnt. Trotzdem war auch die EU völlig unvorbereitet.
Weiter lesen...