von Bernd Hontschik
11.12.2023
Nie zuvor gab es so viel Unruhe und Chaos in der
Krankenhauslandschaft unseres Landes. Die Ankündigung
einer Revolution vor einem Jahr schien daher
überfällig. Als Grundübel benannte Gesundheitsminister
Lauterbach das Vergütungssystem der Krankenhäuser,
das sogenannte DRG-System: „Es geht darum,
dass wir das System der Fallpauschalen systematisch
überwinden“. Insider staunten, schließlich hatte Lauterbach
doch maßgeblich zu dessen Einführung im
Jahr 2003 beigetragen und es zwanzig Jahre lang verteidigt,
bis auch er jetzt endlich erkannte, dass eine
Krankenhausfinanzierung nach Fallzahlen und Schwere
der behandelten Diagnosen den eigentlichen Auftrag
des Gesundheitswesens pervertierte. Plötzlich
waren die Krankenhäuser zu einem ökonomischen
Denken in Gewinn- und Verlustkategorien gezwungen.
Gewinne machte der, dem es gelang, mit möglichst
wenig Personal und möglichst geringen Kosten möglichst
viele Kranke in möglichst kurzer Zeit zu behandeln.
Verluste machte, wer in erster Linie zeitraubende,
empathische Medizin betreiben wollte und erst in
zweiter Linie auf die Vergütung achtete. Nicht mehr
der Kranke war Gegenstand der Heilkunst, sondern
die Krankheit wurde zum Gegenstand von Fallpauschalen.
Wo diese Fallpauschalen Bilanzgewinne versprachen,
da blühten die Abteilungen auf, so etwa in
der operativen Augenheilkunde oder der Orthopädie,
besonders in der Chirurgie der Wirbelsäule und den
Gelenkersatzoperationen. Da explodierten die Fallzahlen.
Wo die Fallpauschalen regelmäßig zu Defiziten
führten, verkümmerten die Abteilungen und wurden
reihenweise geschlossen, so etwa in der Kinderheilkunde
oder den Entbindungsstationen. Mit Medizin
hatte das alles fortan nichts mehr zu tun.
Das System der Fallpauschalen ist aber nicht allein
dafür verantwortlich, dass in den vergangenen vier
Jahren knapp sechzig Krankenhäuser geschlossen
wurden und über siebzig akut von Schließung bedroht
sind. Der zweite Grund ist, dass sämtliche Landesregierungen
allesamt über Jahrzehnte ihren gesetzlichen
Auftrag ignorierten, in die Krankenhaussubstanz zu
investieren. Sie ließen ihre Krankenhäuser sozusagen
verhungern und eines nach dem anderen in die Schuldenfalle
laufen. Und so kommt es, dass heute knapp
siebzig Prozent der Kliniken ihre Existenz akut gefährdet
sehen. Fast kein Krankenhaus kann seine Ausgaben
aus den laufenden Einnahmen decken. Die Situation
der Krankenhäuser ist also im ganzen Land dramatisch.
Doch halt: Da gibt es noch die privaten Klinikkonzerne.
Dort ist gar keine Rede von Schließungen oder von
Unterdeckung der laufenden Ausgaben. Im Gegenteil:
Die vier größten Konzerne expandieren ständig und
erwirtschaften im Jahr rund eine Milliarde Gewinn für
ihre Aktionäre. Wie geht das denn? Das Rätsel ist
schnell gelöst: Kündigung der Tarifverträge, Outsourcing
aller nichtmedizinischen Leistungen, Personalverknappung
über Schmerzgrenzen hinaus und Konzentration
auf lukrative Leistungen, mit anderen Worten:
Kosten senken und Einnahmen steigern. Medizin wird
nur noch in lukrativen Sektoren betrieben. Ein allgemeiner
Versorgungsauftrag im Sinne einer öffentlichen
Daseinsvorsorge gilt für börsennotierte Konzerne
nicht.
Eine wirkliche Revolution im Krankenhauswesen
müsste völlig anders aussehen. Erstens: Zunächst
muss man das Fallpauschalensystem nicht nur ein
wenig zurückdrängen, wie jetzt geplant, sondern ganz
und gar abschaffen. Stattdessen muss ein Selbstkostendeckungsprinzip
auf der Basis einer klugen Bedarfsplanung
zum Zuge kommen. Damit würden dem
Krankenhaus die entstandenen Kosten von den Krankenkassen
erstattet, rote Zahlen gäbe es nicht mehr.
Zweitens: Das macht aber nur Sinn, wenn der profitorientierten
Medizin endlich ein Ende gemacht wird,
andernfalls würde die Allgemeinheit weiterhin die
Dividenden von Aktionären mit ihren Krankenkassenbeiträgen
finanzieren. Krankenhäuser müssen der
staatlich garantierten Daseinsvorsorge, also der Gemeinnützigkeit
verpflichtet werden - kein Platz mehr
für die Börse. Drittens und nicht zu vergessen: Die
Länder müssten endlich ihren Investitionsverpflichtungen
nachkommen.
Ohne diese drei Maßnahmen wird der Kahlschlag unter
den Krankenhäusern weitergehen. Nur das halbherzige
Zurückdrängen der Fallpauschalen alleine ist
noch keine Rettung. Und schon gar keine Revolution.
Mehr zum Autor: Eine Rezension des aktuellen Buches von Bernd Hontschik "Heile und Herrsche" findet man hier
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