von Bernd Hontschik
29.05.2023
Befragungen unter ausgestiegenen Pflegekräften ergaben
in letzter Zeit immer wieder, dass die Hälfte von ihnen in
ihren angestammten Beruf zurückkehren würde, wenn sie
mit verträglichen Arbeitszeiten, Wertschätzung, Respekt
und einer angemessenen Vergütung rechnen könnten. Was
ist davon verwirklicht worden? Mehr als eine kärgliche
Corona-Einmalzahlung für Wenige ist nicht herausgekommen.
Ach halt, ich vergaß: Es gab außerdem auch noch sehr
viel Beifall, sogar stehende Ovationen der Abgeordneten im
Deutschen Bundestag. Das war’s dann aber auch.
Statt sich mit einer grundsätzlichen Reform und Neuorientierung
des Pflegeberufes zu befassen, bleibt das Problem
seit Jahrzehnten ungelöst. Daher reist man in arme Länder,
macht Werbung für die großartigen Arbeitsbedingungen in
Deutschland und beraubt diese Länder ihrer qualifizierten
Pflegekräfte. Das ist ein alter Hut, keine neue Idee.
Schon als ich vor über vierzig Jahren als Chirurg im Krankenhaus
Höchst gearbeitet habe, kamen als Ergebnis großangelegter
Anwerbekampagnen etwa ein Viertel der OPSchwestern
und -Pfleger aus Indonesien. Inzwischen sind
sechzehn Gesundheitsminister*innen an mir vorbeigezogen,
aber niemand hat sich an die Ursachen gewagt. Im
Gegenteil. Inzwischen sind etwa die Hälfte der damals noch
4000 Krankenhäuser geschlossen worden, mehr als 50000
Stellen im Pflegebereich gestrichen, die Anzahl der stationären
Behandlungsfälle stieg um ein Viertel an, und diese
Mehrarbeit mit immer weniger Personal führte zu unerträglichem
Arbeitsdruck. So sind im Laufe der Zeit etwa
300000 ausgebildete Pflegekräfte aus ihrem Beruf geflohen.
Unter Gesundheitsminister Spahn flog seine Staatssekretärin
Sabine Weiss zwecks „Anwerbung ausländischer Pflegekräfte“
auf die Philippinen. Auch der Hausherr Jens Spahn
selbst war sich nicht zu schade, in Mexiko und dem Kosovo
höchstpersönlich Abkommen über die Anwerbung von
Pflegekräften abzuschließen. Das nenne ich Pflegeimperialismus.
Die Bundesagentur für Arbeit nennt dieses Programm
aber ungeniert „Triple Win“ und ist damit u.a. in
Bosnien-Herzegowina, Bulgarien, Rumänien, Ungarn, Indien,
Philippinen, Tunesien, Mexiko und Brasilien unterwegs:
Das Herkunftsland gibt arbeitslose Kräfte ab, Deutschland
besetzt freie Stellen, die Betroffenen lernen Deutsch und
verdienen hiesige Löhne. Man könnte das Ganze aber auch
als „Triple-Lose“ bezeichnen: Das Herkunftsland verliert
seine gut ausgebildeten jungen Menschen, in Deutschland
erfüllen sie die Funktion von Lohndrückern, und die Betroffenen
erhalten häufig skandalöse Arbeitsverträge, ja sie
müssen sogar nicht selten „Anwerbekosten“ von mehreren
tausend Euro bezahlen, falls sie - desillusioniert – kündigen
wollen, um in ihre Heimat zurückzukehren. Und nun – man
glaubt es kaum - werden Arbeitsminister Heil und Außenministerin
Baerbock im Juni nach Brasilien reisen, um wieder
Pflegekräfte „anzuwerben“. Hubertus Heil berichtet
schon von solchen Absprachen mit Indonesien und Mexiko.
Entwicklungshilfeministerin Svenja Schulze steht nicht zurück
und hat sich
im Februar zusammen
mit ihm
in Westafrika nach
Pflegepersonal
umgetan, besonders
in Ghana.
Der lächerliche
Applaus, die schlechten Arbeitsbedingungen und der verzweifelte
Versuch, anderen Ländern ihre qualifizierten Arbeitskräfte
wegzunehmen, werden die Probleme im Pflegebereich
nicht lösen. Auf diese Katastrophe ist man sehenden
Auges und untätig zugesteuert, und die Prognosen
sind derart furchterregend, dass die Pflege zu einer Schicksalsfrage
der Nation werden wird. Längst hätte es eine
nationale Ausbildungsinitiative geben müssen, hätten
Krankenhäuser und Pflegeheime mit ausreichenden finanziellen
Mitteln zur Einrichtung von Schulen für Pflegekräfte
ausgestattet werden müssen. Längst hätte man mit dem
Ausbau der universitären Pflegestudiengänge die Attraktivität
und Akzeptanz dieses Berufes erhöhen können. Längst
hätten Karrierechancen in der Pflege geschaffen werden
müssen, endlich verbunden mit einer angemessenen Bezahlung
sowie lebens- und familienfreundlichen Arbeitszeiten.
Am wichtigsten aber wäre es, endlich die Privatisierung zu
stoppen, auf allen Ebenen, in den Krankenhäusern, in der
ambulanten Medizin der „Versorgungszentren“ und in den
Pflegeheimen. Für die Arbeitshetze in der Pflege und im
ärztlichen Bereich ist in erster Linie der Zwang zur Profitmaximierung,
zu möglichst hohen Renditen für Aktionäre
verantwortlich. Pflege, Fürsorge und gute Medizin ist unter
diesen Bedingungen nicht möglich. Das ist der Grund für
den Exodus der Pflegekräfte, von dem inzwischen auch
Ärztinnen und Ärzte massiv erfasst werden. Es wird nichts
von selbst besser. Das Gesundheitswesen muss gemeinnützig
und Teil staatlicher Daseinsvorsorge sein.
Mehr zum Autor: Eine Rezension des aktuellen Buches von Bernd Hontschik "Heile und Herrsche" findet man hier
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