von Bernd Hontschik
21.03.2023
Zur Zeit sind die Angriffe auf unser solidarisch finanziertes
Gesundheitswesen mal wieder so scharf wie schon
lange nicht mehr. Auch der Zeitung mit den vier großen
Buchstaben ist das eine Schlagzeile wert: „Kassen-
Patienten sollen 2000 Euro selbst bezahlen“. Ein Freiburger
Ökonomieprofessor namens Bernd Raffelhüschen,
bisher nur bekannt als Lobbyist der neoliberalen
Arbeitgebertruppe „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“
(INSM), warnt vor einer Kostenexplosion im Gesundheitswesen
und prophezeit einen Beitragssatz von
22 Prozent im Jahr 2035, wenn man dem keinen Einhalt
gebietet.
Und wie gebietet man dem Einhalt? Wie will der Professor
Raffelhüschen das selbstgemalte Schreckensszenario
in den Griff bekommen? Sein Rezept ist eine exorbitant
erhöhte Eigenbeteiligung. Schon immer will man ja mit
Eigenbeteiligungen Kranke von Arztbesuchen abhalten,
aber irgendwie hat das noch nie so recht geklappt. Vielleicht
waren die Zuzahlungen bislang zu niedrig, nicht
schmerzhaft genug? Professor Raffelhüschen macht
daher keine halben Sachen. Er plädiert nicht für zehn, er
plädiert auch nicht für hundert Euro Zuzahlung bei jedem
Arztbesuch, nein: Er sorgt mit der lautstarken und
noch nie dagewesenen Forderung nach einer Eigenbeteiligung
von 2000 Euro im Jahr für Aufsehen.
Neu sind solche Forderungen nicht, wenn auch nicht in
dieser Höhe. Fast fünfzig Jahre ist es schon her, seit Heiner
Geißler, damals Sozialminister des Landes Rheinland-
Pfalz, im Jahr 1976 den Begriff der Kostenexplosion
im Gesundheitswesen erfand, der bis heute die Geister
verwirrt. „Die Gesundheitspolitik der Bundesrepublik
wird in Zukunft vor gravierenden Finanzproblemen stehen“,
schrieb er in seinem Buch „Die neue soziale Frage“
und orchestrierte das Schreckensszenario der immer
weiter steigenden Ausgaben im Gesundheitswesen mit
dem Ergebnis seiner Modellrechnung, dass „im Jahr
2000 ein Beitragssatz von rund 79 vH zur Deckung der
Ausgaben erforderlich sein“ werde.
Auch Heiner Geißler sah damals nicht viele Möglichkeiten,
die drohende Katastrophe abzuwenden: entweder
Leistungskürzungen oder Beitragssatzerhöhungen oder
Zuzahlungen der Versicherten. Als er dies 1976 schrieb,
betrug der Beitragssatz knapp elf Prozent, im Jahr 2000
betrug er dreizehn Prozent, und bekanntlich beträgt der
gesetzlich festgelegte Beitragssatz heute nicht 79, sondern
14,6 Prozent. Bis jetzt hat es eine „Kostenexplosion“
in unserem Gesundheitswesen nämlich noch nie
gegeben. Gewaltige Ausgaben der vergangenen drei
Jahre sind ausschließlich auf die Corona-Pandemie zurückzuführen
und haben mit der grundsätzlichen Finanzierung
unseres Gesundheitswesens nichts zu tun. Der
Anteil der Kosten für das Gesundheitswesen betrug Jahr
für Jahr zwischen zehn und zwölf Prozent, mit einer allenfalls
moderaten Steigerung, aber niemals mit einer
Explosion.
So alt die Idee der Kostendämpfung durch Zuzahlungen
auch ist und so oft sie auch immer wieder aufgewärmt
wird, so sehr verfehlt sie doch schon immer ihr gewünschtes
Ziel. Die London School of Economics hat
schon vor vierzehn Jahren 173 Studien aus fünfzehn
Nationen über Zuzahlungen im Gesundheitswesen ausgewertet
und zweifelsfrei festgestellt, dass die Folgekosten
durch weniger Arztbesuche, durch verzögerte Notfallbehandlungen
und durch verschleppte Krankheiten
höher sind als alle Einsparungen und Einnahmen durch
Zuzahlungen zusammen. Durch Zuzahlungen werden
einkommensschwache Kranke vom Arztbesuch abgehalten.
Ökonomisch sind Zuzahlungen also eine Milchmädchenrechnung.
Sie sind kostentreibend, nicht kostensenkend.
Wenn Zuzahlungen den Krankenkassenetat mit nur zwei
Milliarden Euro im Jahr so gut wie gar nicht entlasten,
wenn Zuzahlungen gar nicht kostendämpfend wirken,
was sollen sie dann? Wenn es ökonomisch gar nichts
bringt, steckt vielleicht eine ganz andere Idee dahinter?
Die scheibchenweise Erweiterung der Zuzahlungen hat
vor Jahrzehnten ganz klein und harmlos mit nur fünfzig
Pfennig pro Rezept begonnen. Sie belastet chronisch
Kranke inzwischen mit mehreren hundert Euro pro Jahr
für Verbandsmittel, Medikamente, Hilfsmittel, Heilmittel,
häusliche Krankenpflege, Krankenhausaufenthalt,
Rehabilitation, Fahrtkosten und Haushaltshilfen. Das ist
nichts anderes als eine scheibchenweise Demontage des
Solidaritätsprinzips. Spätestens mit der Forderung nach
Zuzahlungen in der exorbitanten Höhe von 2000 Euro,
also etwa in Höhe eines durchschnittlichen Netto-
Monatsgehalts, entpuppt sich das Konzept als Teil einer
neoliberalen Gesamtidee, mit der Krankheitskosten
mehr und mehr von der Solidargemeinschaft auf die
einzelne Kranke, den einzelnen Kranken abgewälzt werden
sollen.
Mehr zum Autor: Eine Rezension des aktuellen Buches von Bernd Hontschik "Heile und Herrsche" findet man hier
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