von Bernd Hontschik
09.01.2023
Erst war es nur ein vorübergehender Engpass. Hustensäfte
für Kinder seien betroffen, außerdem
Schmerzmittel wie Ibuprofen. Wieso gerade Hustensäfte
betroffen waren, blieb im Dunkeln. Die Probleme
mit den Lieferketten wurden größer, und dann
war es leer in manchen Regalen der Apotheken. Es
sollte aber noch schlimmer kommen.
Es ist jetzt sieben Jahre her, als bei dreizehn Impfstoffen
und sechsundzwanzig Medikamenten erstmals
massive Lieferengpässe auftraten. Es betraf so
wichtige Medikamente wie Antibiotika, Blutdrucksenker,
Krebsmedikamente und Parkinson-Mittel. Es
fehlten Impfstoffe gegen Kinderlähmung, Tetanus,
Diphterie und Keuchhusten. Geschehen ist in diesen
sieben Jahren nichts. „Augen zu und durch!“, das half
eine Zeitlang, bis das Problem jetzt richtig eskalierte.
Das Problem heißt Globalisierung, Konkurrenz und
Ausbeutung. Das Problem heißt Profitgier. Das Problem
heißt Dumpingpreise. Das Problem heißt Produktion
in „Billiglohnländern“, besonders in Asien. Indien
und China haben unsere Arzneimittelversorgung
inzwischen fast vollständig in der Hand. In Europa
findet keine nennenswerte Arzneimittelproduktion
mehr statt. In Deutschland wird kein einziges Antibiotikum
mehr hergestellt, seit Sandoz im Jahr 2015
seine letzte Fabrik in Frankfurt-Höchst geschlossen
hat. Auf unseren Medikamentenschachteln steht
trotzdem „Made in Germany“. In der Packungsbeilage
muss nur das Land genannt werden, in dem der
letzte Produktionsschritt vollzogen wurde. Im Fall
von Arzneimitteln ist das die Kontrolle und Verpackung.
„Made in Germany“ ist also nichts weiter als
eine Irreführung. Ein Witz.
Das ist aber noch nicht alles. Vor fünf Jahren schockierte
die ARD mit einem Bericht aus Hyderabad,
der indischen Welt-Arzneimittel-Hauptstadt. Hunderte
von Arzneimittelfirmen hatten sich dort angesiedelt.
Sie arbeiten in einem Moloch aus Schwefelgestank
und fauligen Abwasserkanälen, transportieren
ihr Wasser in rostigen Tanklastern, dazwischen Schafe
und heilige Kühe auf den staubigen Straßen der
Stadt. Mit „minimaler Kontrolle und maximaler Förderung“
wirbt Hyderabad für seine Industrieansiedlungen!
Wasserproben rund um diese Arzneimittelfabriken
zeigten bis zu tausendfach höhere Antibiotikakonzentrationen
als in der freien Natur jemals
zuvor gemessen worden waren. So wachsen in den
Abwässern rund um diese Fabriken multi-resistente
Keime und Pilze heran, die über die Nahrungskette
zum Menschen gelangen, von Reisenden mitgebracht
werden und mit keinem Antibiotikum oder
Antimykotikum der Welt mehr behandelbar sind. Das
sieht man unseren sauberen Arzneimittelschachteln
natürlich nicht an.
Aber auch das ist noch nicht alles. Im Oktober 2022
warnte die WHO vor vier Husten- und Erkältungssäften,
weil sie mit dem Tod von siebzig Kindern in
Gambia in Verbindung gebracht wurden. Die Kinder
waren an Nierenversagen gestorben. Die Regionalregierung
im indischen Haryana ordnete die Einstellung
der Hustensaftproduktion an. Im November 2022
wurde in Indonesien zwei indischen Unternehmen
die Lizenz entzogen: Innerhalb von knapp zwei Monaten
waren dort 200 Kinder an akutem Nierenversagen
gestorben, nachdem sie Sirupmedikamente
eingenommen hatten. Sie waren mit giftigem Diethylenglykol
und Ethylenglykol aus Frostschutzmitteln
gepanscht. Im Dezember 2022 wurde die Hustensaftproduktion
einer weiteren indischen Firma gestoppt,
nachdem in Usbekistan zwanzig Kinder gestorben
waren. Unser sogenannter Engpass ist also in
Wirklichkeit ein Produktionsstopp. Da war es vielleicht
doch ein Segen, dass es hierzulande keinen
Hustensaft mehr gab?
Die eigentliche Eskalation beginnt aber erst jetzt.
Ende Dezember 2022 beschlossen die chinesischen
Behörden, die Ausfuhr von Ibuprofen und Paracetamol
komplett einzustellen. China benötige seine Arzneimittel
derzeit selbst, da die Corona-
Infektionszahlen in die Höhe geschossen seien. Nachrichten
aus China berichten von langen Schlangen
vor den Arzneimittelfabriken, weil die Menschen sich
direkt versorgen wollten. Ibuprofen wird glücklicherweise
nicht nur in China produziert, sondern
auch in den USA, geringe Mengen auch in Ludwigshafen.
Für andere wichtige Medikamente trifft das aber
nicht zu. Die Bedrohung wächst.
Mehr zum Autor: Eine Rezension des aktuellen Buches von Bernd Hontschik "Heile und Herrsche" findet man hier
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