von Bernd Hontschik
21.11.2022
Das Recht auf freie Meinungsäußerung ist etwas so Schützenswertes,
etwas so Wichtiges für die Stabilität einer Demokratie,
dass dieses Recht nicht nur in nationalen Verfassungen,
sondern auch in Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention
festgeschrieben wurde. Zu den fünfzehn
Erstunterzeichnern dieser Konvention im November
1950 in Paris gehörte auch die Türkei.
Im Mai 2019 verurteilte ein Gericht in Ankara elf Ärzte wegen
„Anstachelung zu Hass und Feindschaft“ zu je 20 Monaten
Haft. Einer von ihnen erhielt zusätzlich 18 Monate Haft
wegen „Terrorpropaganda“. Präsident Erdoğan bezeichnete
die Verurteilten als „Terroristen-Liebhaber“ und als eine
„Bande nicht denkender Sklaven“. Ihr Verbrechen hatte darin
bestanden, dass sie wegen der türkischen Militäroffensive in
den Kurdengebieten Nordsyriens zu Frieden aufriefen. Es sei
ihre ärztliche Verpflichtung, „Leben zu bewahren und friedliche
Lebensumstände zu verteidigen“.
Im Januar 2022 leitete eine der bekanntesten türkischen
Journalistinnen namens Sedef Kabaş eine Fernsehdiskussion
über die Kunstfreiheit. Dabei zitierte sie auch ein altes
tscherkessisches Sprichwort: „Geht ein Ochse in einen Palast,
wird er nicht zum König, sondern der Palast wird zum Stall“.
Kurze Zeit nach der Sendung wurde sie um zwei Uhr nachts
verhaftet. Wegen Präsidentenbeleidigung wurde sie zu einer
Gefängnisstrafe von 2 Jahren und 4 Monaten verurteilt, obwohl
sie Erdoğans Namen gar nicht erwähnt hatte.
Ebenfalls Ende Januar dieses Jahres wurde Sezen Aksu, die
beliebteste Sängerin des Landes, von Präsident Erdoğan
während des Freitagsgebets wegen eines fünf Jahre alten
Songs über Adam und Eva attackiert. Er beschuldigte sie der
Blasphemie, weswegen man ihr „die Zunge herausreißen“
solle. Diesmal hatte Erdoğan aber nicht mit dem Volkszorn
gerechnet, Sezen Aksu wurde weder verhaftet noch angeklagt.
Aber im Fall der Präsidentin der türkischen Ärztekammer,
Prof. Şebnem Korur Fincancı, konnte weder Prominenz noch
breite internationale Solidarität verhindern, dass sie seit
Anfang Oktober zum wiederholten Male im Gefängnis sitzt.
Schon 2016 war sie wegen "Werbung für eine terroristische
Organisation" angeklagt und verurteilt worden, weil sie die
kurdische Tageszeitung Özgür Gündem unterstützt hatte. Am
19. Oktober nun kommentierte
Prof. Fincancı
in einer Fernsehsendung
Videobilder von bewaffneten
PKK-Mitgliedern,
die mutmaßlich Symptome
eines Chemiewaffenangriffs zeigten. In den Morgenstunden
des 26. Oktober wurde sie nach einer Hausdurchsuchung
in Istanbul festgenommen und ist seitdem in der Antiterror-
Abteilung der Sicherheitsbehörde inhaftiert. Ihr wird die
"absichtliche Verbreitung falscher Informationen in der Öffentlichkeit",
das "Anstiften der Öffentlichkeit zu Hass und
Feindschaft", "Verleumdung" und "Verunglimpfung des Staates,
staatlicher Einrichtungen und Organe" vorgeworfen.
Das alles hat mit Menschenrechten und Meinungsfreiheit
nichts zu tun. Es ist Teil des Unterdrückungsapparates von
Despoten. Şebnem Korur Fincancı, die 2018 für ihr überragendes
Engagement bei der Dokumentation und Aufklärung
von Folter und anderen Menschenrechtsverletzungen mit
dem Hessischen Friedenspreis ausgezeichnet worden war, ist
dem Regime ein ständiges Ärgernis, mehr als nur ein Dorn im
Auge. Als der türkische Ärzteverband TTB auf einer Pressekonferenz
von einem „pechschwarzen Tag“ für die Demokratie
in der Türkei sprach, warf der türkische Justizminister
Bekir Bozdag den Ärzten vor, mit „dem Munde der Terrororganisationen“
zu sprechen. Inzwischen haben die Bundesärztekammer,
die Landesärztekammern Hessen, Berlin und
Hamburg, einige Ärztevereinigungen sowie der Weltärztebund
die sofortige Freilassung von Prof. Şebnem Korur Fincancı
gefordert. Und jede und jeder von uns kann helfen:
Amnesty International betreibt eine Solidaritätskampagne,
die auf ihrer Homepage gezeichnet werden kann.
Mehr zum Autor: Eine Rezension des aktuellen Buches von Bernd Hontschik "Heile und Herrsche" findet man hier
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