Mahnruf zum Frieden
Zum 150. Geburtstag des Malers, Schriftstellers und radikalen Pazifisten Heinrich Vogeler
von Helmut Donat*
Das Interesse an Heinrich Vogeler scheint ungebrochen. Sein 150. Geburtstag am 12. Dezember 2022 hat in seiner Heimatregion ein beachtliches Echo gefunden. Am 11. Dezember strahlt Arte das neue Dokudrama »Heinrich Vogeler: Maler, Genosse, Märtyer« von Marie Noëlle aus. Die Worpsweder Museen zeigten bis November Ausstellungen, die 70.000 Besucher angelockt haben sollen. In Bremen ist dem Ausnahmekünstler ein Vortragszyklus (»Ich will nicht mehr hassen!«) gewidmet, für den Bürgermeister Andreas Bovenschulte die Schirmherrschaft übernommen hat und den der Verein »Gegen Vergessen – für Demokratie« (Region Bremen-Unterweser) und der Donat Verlag organisiert haben. Die Hansestadt verdankt Vogeler ein einzigartiges Meisterwerk, das, vom Bremer Senat in Auftrag gegeben, bis heute große Bewunderung findet: die »Güldenkammer« im Bremer Rathaus, ein 1904/05 im Jugendstil gestaltetes Zimmer, von seinem Schöpfer bis ins kleinste Detail entworfen und verwirklicht – bis hin zur vergoldeten Ledertapete.
Es ist oft von Brüchen in Heinrich Vogelers Leben die Rede. Er selbst hat zu dieser Sichtweise beigetragen, indem er sich in seinen Erinnerungen bis 1914 als Romantiker, 1918 als Mystiker und ab 1924 als antikapitalistischen Agitator bezeichnete. Sein Schicksal ist einzigartig – und doch wieder nicht. Wie ist das zu erklären? Aufgewachsen als wohlbehütetes Kind in einer Bremer Kaufmannsfamilie, fand sein Dasein im Juni 1942 in einem Kolchos bei Kornejewka in Kasachstan ein tragisches Ende.
Vogelers Leben und Sterben ist ohne den doppelten Versuch deutscher Politiker und Militärs, die Weltherrschaft zu erobern, nicht zu erklären. Es ist wesentlich, daran zu erinnern. Nicht etwa die Sowjetunion oder etwa die USA haben die Geschichte des 20. Jahrhunderts geprägt, sondern vielmehr Deutschland. Zunehmender Wohlstand, Tatendrang, Fortschritt, Erfolge, militärische Stärke und Machtdünkel verbanden sich mit einer kaum ausgebildeten Haltung, den Frieden zu bewahren; des Weiteren mit einer politisch-psychologischen Stimmungslage und Mentalität, die sich in einem erklärten Widerspruch zu den Ideen von 1789 befand. In ihrem Streben nach einem »Platz an der Sonne« orientierten sich die herrschenden Kreise an den Grundmustern des Militarismus preußisch-deutscher Provenienz – auch nach 1918. Das Ergebnis waren die beiden Weltkriege. Selbst wenn man davon ausginge, die Deutschen trügen die Verantwortung für die Weltkriege nicht allein, waren sie doch zweifellos der auslösende Faktor. Hätten sie sich 1914 in ihrer einstigen Rolle als Friedensstifter und Mittler zwischen Ost und West, Nord und Süd bewährt und mit sich selbst im Einklang befunden, Europa, der Welt und ihnen selbst wären Not, Elend, Tod und Zerstörung erspart geblieben. So aber verhalf der Erste Weltkrieg den Bolschewiki, unterstützt von den Deutschen, in Russland zum Sieg. Der Zweite Weltkrieg machte die Vorrangstellung Europas vollends zunichte, führte die USA in den Rang einer Supermacht, während die Sowjetunion in Osteuropa und bis nach Deutschland vorrückte.
Post an den Kaiser
Insbesondere vor diesem Hintergrund sind die Entwicklung und Haltung Vogelers einzuordnen und zu bewerten. Der wichtigste Auslöser für seine Wandlung vom »Romantiker« zu einem engagierten Streiter für Frieden, Freiheit und soziale Gerechtigkeit war die Haltung der deutschen Reichsleitung in der Julikrise 1914, die sich dem Bemühen der Ententemächte, den Konflikt auf friedliche Weise zu lösen, widersetzte und damit den Waffengang unausweichlich machte. Umso höher und bedeutender ist Vogelers »Friedensappell« von Januar 1918 einzuschätzen. Um was geht es dabei?
Im Dezember 1917 geschieht auf dem Potsdamer Platz in Berlin Außergewöhnliches. Ein alter Mann verteilt auf Flugblättern mit der Überschrift »Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!« die Zehn Gebote, predigt am Nachmittag des 24. Dezember den Frieden – und gerät in das Räderwerk der Militärdiktatur. Er wird verhaftet und standrechtlich erschossen.
Wenige Tage nach dem merkwürdigen Vorfall, ist in dem »Friedensappell« zu lesen, beschließen die Feldherren in Berlin, »die Welt mit dem Schwerte in der Hand vor sich in die Knie zu zwingen«. Und sie erheben sich selbst »zum bluttriefenden Götzen, aus dessen selbstherrlicher Hand die Menschheit ihre Gesetze empfangen sollte«. Plötzlich würden sie gewahr, wie der totgeglaubte, alte Mann mitten unter ihnen auferstanden sei – und stumm auf die Zehn Gebote weise. Aber niemand schaue auf ihn. Da gebe Gott sich in dem Alten zu erkennen. Doch er muss feststellen, dass man ihn gar nicht kennen will, dass man aus ihm eine prunkende Form gemacht habe, ein Goldenes Kalb, das ihn tot anglotze. Gott flieht vor den Menschen und überlässt sie sich selbst.
Verfasser des »Friedensappells« an Kaiser Wilhelm II. ist der berühmte Worpsweder Maler und Bremer Jugendstilkünstler, nachträglich von ihm »Das Märchen vom lieben Gott – Brief eines Unteroffiziers an den Kaiser im Januar 1918, als Protest gegen den Frieden von Brest-Litowsk« genannt und am 20. Januar 1918 an das Große Hauptquartier des Kaisers nach Charleville gesandt. Wie kommt Vogeler dazu, den Kaiser persönlich anzusprechen, moralisch zu bewerten und zugleich das Risiko einzugehen, liquidiert zu werden, gewillt, »den Kelch bis zur Neige zu leeren«?
Vor dem Ersten Weltkrieg lange Zeit des Bürgers »liebstes Kind«, erfolgsverwöhnt, anerkannt und verträumt, inszenierte er sein Leben zunächst als Kunstwerk – bis die Realität den Ausnahmekünstler einholte und in eine tiefe Krise stürzte. Als Freiwilliger folgte er im August 1914 dem »Ruf der Waffen«, überzeugt, Deutschland sei von Feinden umringt und von ihnen überfallen worden. Als »Kriegszeichner« erlebte er die Grausamkeit des Völkermordens in den Karpaten sowie vor den Schlachtfeldern von Verdun und erkannte, dass »die Militärkaste gar nicht fürs Volk kämpfte, sondern für den Mehrbesitz der Reichen«. Dabei dachte Vogeler vor allem an die einfachen Soldaten, »die den Mächtigen nur als Kanonenfutter taugen. Es muss endlich Frieden sein. Der Krieg hat mich zu einem glühenden Pazifisten gemacht. Nach all dem Elend, das der Krieg über die Völker gebracht hat, kann Deutschland nur noch ein christlich geprägter Sozialismus helfen.«
Als sich im Oktober 1917 in Russland die bolschewistische Revolution durchsetzt, sieht er einen Silberstreif am Horizont. Doch statt einer Verständigung diktiert deutscher Eroberungsgeist den »Frieden« von Brest-Litowsk. Vogeler soll ein Plakat für die Propagierung einer neuen Kriegsanleihe fertigen. Er entscheidet sich, den Befehl zu unterlaufen, skizziert eine niederdeutsche Bäuerin mit Holzschuhen, die sich mit der linken Hand auf einen Spaten stützt und mit der rechten die Augen vor der Sonne schützt. »Zeichnet Kriegsanleihen – die Heimat ruft!« steht auf dem Plakat. Der Entwurf lässt durchaus die Interpretation zu, dass die Bäuerin sich nach ihren Söhnen sehnt.
Seinen Auftraggebern missfällt das Plakat. Aber um ihm einen Vorwurf zu machen, dazu reicht es nicht. Der ihm wohlgesinnte General Friedrich von Gerok schickt ihn zur Erholung nach Hause, wo er einen neuen Entwurf für die Kriegsanleihe erarbeiten soll. Doch Vogeler entzieht sich dem Auftrag. Er befindet sich im Januar 1918 in Worpswede in einer fast trancehaften Stimmung. In ihm haben sich die Erlebnisse der Kriegsjahre in einer Weise verdichtet, wie es damals wohl selten der Fall gewesen sein dürfte. Wie ist das zu erklären?
»Da war uns alles klar«
In seinem »Offenen Brief zum Frieden unter den Menschen«, den er 1919 an die »Bauern, heimgekehrten Feldgrauen und die Frauen« richtet, heißt es: »Als ich herauszog 1914 in den Krieg, da dachte ich wie die meisten von Euch, ich glaubte an den Überfall auf unser Land. Da draußen sind wir alle hellsehend geworden. Wir erkannten, dass auch im Heere mit vielerlei Maß gemessen wurde, dass Klassen regiert und Klassen unterdrückt wurden. Es widerte uns an, diese furchtbare Blutarbeit zu tun, als wir auf unser großes ›Warum‹ immer nur die Kriegsziele der Großkaufleute, der Fabrikbesitzer und Großgrundbesitzer hören mussten: Annexion von Kurland, Estland, Belgien. Wie furchtbar viele Menschen haben wir sterben sehen auf beiden Seiten. Und uns wollte das ›Warum‹ gar nicht mehr in den Kopf, und wer für den Frieden sprach, den sah man mit Misstrauen an. Und dann kam der Frieden … von Brest-Litowsk, da war uns alles klar.«
Vogeler sieht deutlich, dass es sich bei den Bedingungen, die Deutschland als Siegermacht den Russen auferlegt, um einen Diktat- und Raubfrieden handelt. Er fasst den Entschluss, wie er schreibt, »für die Erkenntnis der Wahrheit alles einzusetzen, um die Last der Lüge nicht durch mein ganzes Leben weiterschleppen zu müssen«. Mit anderen Worten: Er ist nicht mehr bereit und willens, länger mitzumachen oder zu schweigen. Als die Verhandlungen von Brest-Litowsk noch laufen, sagt ein höherer Generalstabsoffizier zu Vogeler: »Wir Deutschen müssen einen Frieden machen, der das Gift der Zerstörung für unseren Feind in sich trägt.« Eine solche Haltung der deutschen Regierung, Militärs und führenden Kreise nimmt sich in den Augen des Malers als Gewalt aus: »Mit dieser Anschauung vom Frieden muss aufgeräumt werden, denn das ist Krieg« – und aus diesem Grunde setzt er sich in Worpswede hin und bringt in der Nacht zum 20. Januar 1918 die Geschichte vom alten, traurigen Mann, genannt Gott, zu Papier. In Form einer Fabel führt er den höchsten militärischen Stellen vor Augen, wie die Welt aussähe, würde Gott mit den Zehn Geboten zu ihnen kommen.
Nachdem Gott die Menschen verlassen hat, heißt es in Vogelers »Märchen« weiter, führten die Götzen »das Volk immer tiefer ins Elend und erweckten weiter Hass, Bitternis, Zerstörung und Tod, und wie sie nichts mehr hatten außer blechernen Schmucksternen und Kreuzen, verschenkten sie das gestohlene Gut ihren Völkern. Da ging Gott zu denen, die zusammengebrochen waren unter der Bürde der Leiden, unter Hass und Lüge: ›Es gibt über euren Götzen einen Gott, es gibt über eurem Fahneneid meine ewigen Gesetze. Es gibt über eurem Hass die Liebe.‹ Da gaben die Krüppel ihre blutstinkenden grauen Kleider, ihre Orden und Ehrenzeichen zurück an den Gott des Mammons, gingen unter das Volk und entheiligten die Mordwaffen und vernichteten sie. Gott aber ging zum Kaiser: Du bist Sklave des Scheins. Werde Herr des Lichtes, indem du der Wahrheit dienst und die Lüge erkennst. Vernichte die Grenzen, sei der Menschheit Führer. Erkenne die Eitelkeit des Wirkens. Sei Friedensfürst, setze an die Stelle des Wortes die Tat, Demut an die Stelle der Siegereitelkeit, Wahrheit anstatt Lüge, Aufbau anstatt Zerstörung.« Und dann als Schluss sein unerhörtes Verlangen: »In die Knie vor der Liebe Gottes, sei Erlöser, habe die Kraft des Dienens, Kaiser!«
Mit allen Konsequenzen
Erschüttert von dem Erlebnis und der Sinnlosigkeit des Krieges, empfindet Vogeler die Nacht nach der Abfassung des »Märchens« als die »seligsten Stunden seines Lebens«. Er ist mit sich im Reinen. Dies, so schreibt er, sei ein Schrei: »Für alle Öffentlichkeit bestimmt mit allen Konsequenzen! Was liegt daran, wenn man mich persönlich vernichtet, wenn ich nur gehört werde, es sterben so viel bessere, stärkere Menschen wie ich. Verloren habe ich fast alle meine Freunde, meine äußeren Erfolge, und doch müssen sie mich hören, so kann man nicht weiterleben, dann vernichtet mich lieber.« Mit seiner Tat suchte Vogeler Frieden zu stiften, indem er sein eigenes Schicksal mit dem der Welt verknüpfte. Ungeachtet seines missionarischen Handelns blieb ihm aber bewusst: »Vorderhand bin ich aber weder irrsinnig noch ein Heiliger, sondern ein Mensch, der durch schwer errungene Erkenntnis etwas Licht in diese Welt bringen will.«
Vogeler sendet seinen christlich-ethischen Appell mit Hilfe seines Majors nicht nur an Kaiser Wilhelm II. Eine Abschrift schickt er zugleich an die Oberste Heeresleitung. Generalquartiermeister Erich Ludendorff ist über das Verlangen nach einem sofortigen, bedingungslosen Frieden so empört, dass er den Künstler umgehend erschießen lassen will. Vogeler hat damit durchaus gerechnet. Für ihn handelt es sich ganz einfach, wie er drei Tage später, am 23. Januar 1918, seinem vorgesetzten Major mitteilt, »um Tod oder Leben«. Er sehe sich aber gezwungen, »diesen Weg zu gehen, aus dem es kein Zurück mehr gibt«. Denn: »Nichts mehr hielt stand vor der Wahrhaftigkeit ewiger Gesetze. Wir Menschen hatten die Seele ausgeschaltet, an ihre Stelle die Organisation gesetzt, die Organisation der Rache des Hasses, und riefen Gott an, unsere Verbrechen zu heiligen.«
In dem Schreiben an seinen Major mahnte Vogeler nochmals unmissverständlich: »Unser Volk ist am Ende, die Revolution lebt wie eine fressende Flamme. Kein Brot, keine Sättigung kann sie ausschalten! Wahrheit! Wahrheit. Gebt den Menschen Wahrheit.« Und er schließt mit dem Appell: »Es geht um die Ehre meines Vaterlandes, es geht um Gott, es geht um mich (…). Vielleicht ist noch was zu retten – nicht für mich – für den Kaiser, für das Volk! Habt nicht die Feigheit, mich ins Irrenhaus zu sperren.«
Doch genau das geschieht. Vogeler kommt glimpflich davon, hat Glück – und landet in einer Bremer Irrenanstalt. Der ihn behandelnde Arzt Karl Stoevesandt, später ein Gegner der Nazis, versteht sein Aufbegehren gegen den Irrsinn des Krieges, gibt seinem »Patienten« alles, was er zum Malen, Zeichnen und Lesen braucht, entlässt ihn nach gut zwei Monaten als nicht mehr militärfähig. Fortan engagiert sich Vogeler, obwohl unter Polizeiaufsicht, für eine neue Welt fernab von Gewalt, sozialer Ungerechtigkeit und Unterdrückung.
Vogeler begriff sein »Märchen vom lieben Gott« als logische Folge der fehlenden Ethik im politischen Leben des deutschen Volkes bzw. als Folge der Indienstnahme von Moral und Ethik, von Religion und Theologie für höchst amoralische Zwecke. Sein Appell an die Mächtigen des Landes lautete: »Kokettiert nicht mit dem lieben Gott. Fangt statt dessen endlich an, selbst die Zehn Gebote zu achten und zu leben.« Mit seinem Protest gegen die eklatante Verletzung des christlichen Liebesgebotes hat Vogeler zugleich seine öffentliche Desertion vollzogen. Das deutsche Bürgertum und der deutsche Nationalprotestantismus haben ihrem »einstigen Liebling« den Schritt, den Mächtigen den Fehdehandschuh vor die Füße zu werfen, mehr als verübelt. Angriffe und Bezichtigungen, Verfolgungen und Inhaftierungen waren nach 1918 keine Seltenheit. Selbst in Künstlerkreisen suchte man Vogeler als »Sonderling« oder gar als »Geisteskranken« abzutun. Dabei hätte man es besser wissen können. Wenige haben wie er den Mut aufgebracht, schlicht und ergreifend »nein« zu sagen, und den Mächtigen Widerstand geleistet. Nicht er war der »Irre«, sondern jene, die ihren Irrsinn als »Realpolitik« verkauften.
Aufruf zur Liebe
Ein Protest, wie ihn Vogeler sich mit seinem »Märchen vom lieben Gott« von der Seele geschrieben hat, war von einem deutschen Künstler seiner Zeit nicht zu erwarten gewesen. Wie in Stein gemeißelt wirken seine Worte – ehern, zeitlos und losgelöst von seiner Person. Plötzlich hat der Kaiser keine Kleider mehr an. Pomp und Glanz sind dahin. Nackt steht er da, der oberste, mächtige Kriegsherr – und wirkt wie eine traurige Gestalt. Heinrich Vogelers Fähigkeit zu unbeirrbarer Kritik und Selbstkritik, sein Mut, mit dem er es gewagt hat, sich gegen vorherrschende Meinungen zu wenden, heben ihn aus der Menge der Anpasser und Mitmacher heraus. Mit Blick auf die deutsche Geschichte seit 1871 und die politischen Verformungen des deutschen Charakters sowie angesichts der militaristisch-nationalistischen Verirrungen großer Teile der herrschenden Schichten und des Volkes erscheint er wie ein Edelstein, der in einem Trümmerhaufen funkelt.
»Glaubt mir«, sagt Vogeler, »es gibt nichts in der Welt, was die Erkenntnis der Wahrheit, die Liebe, nicht überwindet. Und das ist auch der Sinn dieses ganzen Krieges. Kein Verein kann den Krieg bekämpfen, und diese Fürchterlichkeiten werden nicht aussterben, wenn der Mensch nicht reif wird zur großen Liebe, die versteht und überwindet, denn im Verstehen liegt schon das Überwinden.« Von einem solchen Verständnis der Nächstenliebe und der Weihnachtsbotschaft waren die Kirchen im Ersten Weltkrieg und danach weit entfernt.
Heinrich Vogelers Friedensappell gehört zu den berühmtesten deutschen Künstlerschriften des 20. Jahrhunderts. Seine Klage über die Verlogenheit der deutschen Politik und seine Aufforderung an den Kaiser und die Oberste Heeresleitung, umzukehren und einen Frieden abzuschließen, der nicht gleich wieder den Keim eines neuen Krieges in sich trägt, hat seinem Leben und Werk eine neue Richtung eröffnet und ein Beispiel moralischer Größe gegeben, wenn seine Tat auch illusorisch anmuten mag. Die deutsche UNESCO-Kommission spricht von der Handlung eines Menschen, »dessen Friedensbrief an Kaiser Wilhelm II. als kühnes Friedensvorhaben in die Geschichte einging und dessen Verhalten auch heutige Generationen beeindruckt«.
Wie der im Mai 1920 von einer radikal rechts gesinnten Reichswehr-Truppe ermordete Kapitänleutnant a. D. und zum Kriegsgegner gewandelte Hans Paasche begriff Heinrich Vogeler den Ersten Weltkrieg und die deutsche Verantwortung dafür als eine »Schändung des Evangeliums«. Wie Paasche forderte er eine Abkehr vom Militarismus und für die Zeit nach 1918 eine Neuorientierung der Politik, die nicht weiter auf Gewalt- und Machtkategorien basieren, sondern auf Verständigung und Aussöhnung sowie auf christlicher Moral und Ethik beruhen sollte.
Vogeler hat fortan versucht, dazu einen Beitrag zu leisten, auch wenn nach dem Scheitern der Revolution durch das Ebert-Groener-Bündnis kaum noch eine Chance bestand, in deutschen Landen neue Maßstäbe durchzusetzen. 1919 gründete er auf dem »Barkenhoff« in Worpswede eine Kommune und Arbeitsschule, aber das Experiment scheiterte. 1924 übergab er das Haus der »Roten Hilfe«, die darin ein Heim für Kriegswaisen und für Kinder einrichtete, deren Eltern aus politischen Gründen in Haft geraten waren. Im Januar 1929 schloss ihn die KPD wegen »Rechtsabweichung« aus der Partei aus, später verlor er auch seinen Sitz im Vorstand der »Roten Hilfe«. Vogelers »Vergehen«: Als Anhänger der Kommunistischen Partei-Opposition (KPD-O) hielt er die Doktrin der KPD, die Sozialdemokraten noch vor den Nazis zu bekämpfen, für falsch und warnte davor, dem wirklichen Gegner des Friedens und der Freiheit in die Hände zu arbeiten. Andererseits sah er deutlich, wie wenig sich auch die SPD auf die Abwendung der faschistischen Machtergreifung konzentrierte und ebenfalls nicht bereit war, auf parteipolitische Frontstellungen, Kampfpositionen und taktische Erwägungen zu verzichten. Der »Bruderzwist« paralysierte die Abwehrkräfte gegen das Bündnis von »Hakenkreuz und Stahlhelm«. 1931 hatte Vogeler offenbar genug, kehrte Deutschland den Rücken und nahm in der UdSSR den Auftrag an, in einem Komitee für die Standardisierung des Bauwesens mitzuwirken. Nach 1933 beteiligte er sich am propagandistischen Kampf gegen das Naziregime. Als die Deutschen 1941 vor Moskau standen, wurden er und alle anderen Deutschen evakuiert, was schließlich zu seinem Tod führte.
»Nie wieder hassen«
Was ist Heinrich Vogelers Botschaft an die Menschen? Ein Vergleich mit Leo Tolstoi, dem größten russischen Dichter, bietet sich an. Wie dieser orientierte er sich an der christlichen Lehre. Dem Gebot der Nächsten- und Feindesliebe fügte er zugleich das Bekenntnis hinzu: »Nie mehr hassen!« Sozialismus bedeutet, heißt es in dem von ihm 1920 verfassten kommunistischen Manifest »Das Neue Leben«, »die Fackel der Liebe zu erheben«; sein Kommunismus führt »zur absoluten Freiheit und Selbstbestimmung jedes einzelnen«. Wie für Tolstoi ist für ihn der Weg zu einer neuen Gesellschaft, zur Kommune, »einfach und klar« und lautet »Aufhebung jeglichen Besitzes«. Mit den Aktivitäten für das Wohl des anderen erhöhen sich die eigenen Lebensbedingungen. Nicht mehr Herr und Eigentümer, sondern Diener sein, und allen gehört alles. Kommunist ist, wer alle positiven Kräfte dem Ganzen dienstbar macht, alle negativen in schaffende Kräfte umwandelt. Kranke und unbrauchbar Gewordene werden menschenwürdig versorgt. Vogelers Kommunist kennt »keinen Klassenhass, keine Vergeltung, keine Enteignung aus Rache«. Er will die »göttlichen Güter der Erde (…) jedem Menschen dienstbar machen«.
Tolstoi wie Vogeler waren bestrebt, das Gewissen der Welt aufzurütteln. Das ist ihnen nicht immer gelungen, Vogeler wohl noch weniger als Tolstoi. Die meisten Menschen wollen zwar gern andere Menschen wecken – sich selbst aber nicht im Schlafe stören lassen. Beide machten eine große Wandlung durch. Sie gaben frühere Gewohnheiten auf, legten ihre eleganten Kleider ab und fingen an, das Leben einfacher Bauern zu führen. Sie pflügten ihr Land, pflanzten Bäume, hackten Holz und trachteten danach, anderen zu dienen und sich nicht bedienen zu lassen. Wenn sie auch ihr Leben von Grund auf änderten, so ließen sie doch nicht von der Dichtkunst bzw. von der Malerei ab. Diese bekamen allerdings ein anderes Antlitz, eine neue Ausrichtung. Ihre Werke sollten den Menschen nicht mehr zur Unterhaltung dienen, sondern ein Markstein für alle diejenigen werden, die aufrichtig nach einem neuen Weg suchen.
Beide wählten sie den Weg einer freiwilligen Armut und eines bescheidenen Lebens. Sie fingen bei sich selbst mit dem Großreinemachen an und kehrten zuerst vor der eigenen Türe. Sie wollten selbst besser werden im Umgang mit anderen Menschen und mit der Natur. Dadurch gaben sie, ohne es zu beabsichtigen, anderen Menschen ein Beispiel. Sie waren auch dann groß, wenn es galt, Unglück zu bekämpfen und Unrecht wiedergutzumachen. Beide suchten auch im Kleinen zu wirken, verfassten pädagogische Schriften und sorgten sich um das Los von benachteiligten Kindern. Beide machten sich das Leiden und das Los des russischen Volkes zu eigen, was jedweder Russophobie entgegenstand – und sie waren »große Menschen«, die für den Frieden, die Humanitas und versöhnende Gerechtigkeit eintraten.
Anlass und Ursache
Wer die beiden und ihren gelebten Idealismus mit der Welt von heute konfrontiert, kann eigentlich nur zu dem Schluss gelangen, jedwedem Hochmut und Besitzstreben zu entsagen. Dazu gehört auch – so die Lehre Vogelers aus dem Ersten Weltkrieg –, der neuerlichen Kriegspropaganda zu widersprechen, zwischen dem Anlass und den Ursachen eines Krieges zu unterscheiden und sich zu fragen, ob der gegenwärtige Krieg in der Ukraine verhinderbar und der Wille zum Krieg nur auf der Seite von dem lag, der ihn auslöste. Tun wir nicht weiter so, als würden die Russen morgen in Berlin einrücken. Wie 1914 gilt es, mit den Lügen aufzuräumen, die, so Vogeler im Oktober 1918, »eine vom Kriegswillen verführte Presse propagierte«.
Statt der Kriegspsychose zu erliegen, ist nach den Verantwortlichen auf allen Seiten zu fragen und sich freizumachen von »falschem Patriotismus, vom Hass und von der Lüge«. Was hat die deutsche Politik, was haben wir getan, um das Sicherheitsinteresse der Russen ernst zu nehmen? Warum ist es in den Wind geschlagen worden? Ist jeder, der solche Fragen stellt, nichts weiter als ein Russen-Freund? Dass viele Deutsche sich heute vor den Russen fürchten oder sich bedroht fühlen, das hat eine lange Tradition, eine unrühmliche. Vogeler hätte der damit einhergehenden Propaganda vehement widersprochen und verdeutlicht, dass nicht die Russen im 20. Jahrhundert in deutsches Land eingefallen sind, sondern dass es die Deutschen waren, die gegen die Russen einen Vernichtungskrieg ohnegleichen geführt haben.
(Der Beitrag erschien auch in der Jungen Welt vom 10.12.2022)
Literatur
Bernd Küster: Das Barkenhoff-Buch (mit der bislang besten Biographie über Heinrich Vogeler). Donat Verlag, Bremen 2020
Bernd Stenzig: Das Märchen vom lieben Gott. Heinrich Vogelers Friedensappell an den Kaiser im Januar 1918. Donat Verlag, Bremen 2019
Veranstaltungshinweis
"Ich will nicht mehr hassen!". Veranstaltungsreihe zum 150. Geburtstag von Heinrich Vogeler Dezember 2022 - Februar 2023
Zum Video der Veranstaltung am 16. Dezember 2022
Weiter Videos zur Veranstaltungsreihe gibts hier und hier
* Helmut Donat
Jg. 1947, Bankkaufmann, Lehrer und zeitweise Lehrbeauftragter der Universität Bremen, heute als Historiker, Verleger und Publizist tätig; Mitbegründer des Arbeitskreises Historische Friedensforschung, Organisator diverser Ausstellungen sowie von Kulturtagen und -veranstaltungen, zahlreiche Veröffentlichungen zur Geschichte des deutschen Pazifismus und Militarismus, zum „Historikerstreit“, zur „Wehrmachtsausstellung“, zum Kontinuitätsproblem der deutschen Geschichte, zur Kriegsschuldfrage von 1914 und dem deutschen Annexionismus im Ersten Weltkrieg, zu den Ursachen und Folgen des Nationalsozialismus sowie zum Völkermord an den Armeniern; für sein verlegerisches Engagement und publizistisches Wirken mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Carl von Ossietzky-Preis der Stadt Oldenburg. Lebt im Bremer Stadtteil Borgfeld.