von Walter Ruffler
02.04.2024
Eine frappante Friedensidee...
Am 4. März 2014 veröffentlichte Joerg Helge Wagner im Bremer Weser-Kurier
den Kommentar „Einheit um jeden Preis? – Warum eine Volksabstimmung für
die Ukraine die beste Lösung wäre“ und schlug vor, den territorialen Konflikt um
die Krim und den Donbass mithilfe eines international kontrollierten
Volksentscheids zu lösen. Die Idee hat nach der achtjährigen „Anti-Terror-
Operation“ der Kiewer Regierung gegen die Separatistengebiete mit mehr als
14000 Toten und nach der Eskalation des Konflikts durch den russischen
Angriff am 24. Februar 2022 mit vermutlich bislang mehr als 100000 Toten und
Verwundeten und Millionen Kriegsflüchtlingen noch an Aktualität gewonnen.
Wagner wollte den Konflikt nicht den Berufspolitikern in Kiew und Moskau, in
Washington, London, Berlin, Brüssel usw. überlassen, sondern die
Konfliktlösung in die Hände der betroffenen Bevölkerung legen: Der Westen
„sollte dem Kreml ein Referendum auf der Krim – selbstverständlich unter
internationaler Aufsicht – anbieten.“ Wagner vermutet: „Zwei Drittel werden sich
Putin in die Arme werfen – na und? Braucht Kiew die Krim? Nein, aber es
braucht Russlands Erdöl, Russlands Gas“. Wagner weiter: „Das Mantra von der
‚territorialen Integrität‘ und Einheit der Ukraine“ sei „wenig hilfreich“. Die EU
sollte sich für einen solchen Volksentscheid einsetzen: „Denn das Letzte, was
die Union braucht, ist die mehr oder weniger erzwungene Annäherung von
Millionen Menschen, die sich partout in die entgegengesetzte Richtung
orientieren wollen. Wenn also auch der russophile Osten der Ukraine
mehrheitlich sein Glück in Russland suchen will, sollte man ihn ziehen lassen.“
Wagner hält es offensichtlich für möglich, dass eine Mehrheit der Bewohner von
Krim und Donbass sich staatsbürgerlich falsch platziert fühlen und lieber zu
Russland gehören möchten. Um das herauszufinden, wären die von ihm
vorgeschlagenen international überwachten Referenden ein probates Mittel.
Ähnlich sieht es aktuell auch Noam Chomsky, der im Interview mit der Züricher
„Weltwoche“ vom 2. März 2023 vorschlug: „Prüfen sollte man auch die
Möglichkeit, ein international überwachtes Referendum über die sogenannten
umstrittenen Regionen durchzuführen, die Russland illegal annektiert hat,
inklusive Donbass. Damit ließe sich feststellen, was die Bevölkerung wirklich
will.“(1) Auch Henry Kissinger, Amerikas Elder Statesman, spricht sich für
international überwachte Volksentscheide aus: „Wenn der
Vorkriegsgrenzverlauf zwischen der Ukraine und Russland nicht militärisch oder
durch Verhandlungen erreicht werden kann, könnte auf den völkerrechtlichen
Grundsatz des Selbstbestimmungsrechts zurückgegriffen werden. In besonders
strittigen Gebieten, die im Laufe der Jahrhunderte wiederholt den Besitzer
gewechselt haben, könnten international überwachte Referenden abgehalten
werden.“(2)
Am 19. April 2023 hat sich die Bundestagsabgeordnete der „Linken“ Sahra
Wagenknecht im Rahmen eines Podiumsinterviews zum Thema „Frieden und
Gerechtigkeit – aber wie?“ mit Torsten Kleditsch, Chefredakteur der Freien
Presse Chemnitz, für Volksentscheide in der Ukraine ausgesprochen: „Bei den
besetzten Gebieten wäre in meinen Augen die Ideallösung, zunächst mal die
Waffen schweigen zu lassen, UN-Beobachter in die Gebiete zu schicken, dass
dort keine Übergriffe, keine Verbrechen, keine Repression passiert, und dann,
nach einer gewissen Zeit, wenn sich das alles etwas normalisiert hat, wirklich
die Bevölkerung einfach zu fragen. Und bei der Krim, würde ich sagen, ist
relativ klar, wie das ausgeht, aber das ist dann halt so. Und im Donbass muss
man eben sehen, wie es ausgeht, sollen doch die Leute entscheiden, die vor
Ort leben, zu welchem Land sie gehören wollen.“(3) Mittlerweile hat Indonesien
einen Friedensplan-Vorschlag vorgelegt, der ebenfalls eine Volksabstimmung
vorsieht, „um die Wünsche der Mehrheit der Bewohner der Regionen der Südund
Ostukraine zu ermitteln“.(4)
Die Beispiele zeigen, wie die Friedensfrage mit dem Aspekt der direkten
Demokratie verbunden worden sind, um den Krieg in der Ukraine zu beenden,
dem Töten Einhalt zu gebieten und eine Versöhnung zwischen den
Konfliktparteien zu ermöglichen. Die bundesrepublikanische Friedensbewegung
sollte die Vorschläge von Joerg Helge Wagner, Noam Chomsky, Henry
Kissinger, Sahra Wagenknecht und der indonesischen Regierung aufgreifen
und die deutsche Politik auffordern, sich bei ihren NATO-Partnern und EUKollegen
sowie bei den streitenden Konfliktparteien für die Aushandlung von
international überwachten Volksentscheiden in den umstrittenen Gebieten der
Ukraine einzusetzen.
Um Politiker aller Schattierungen für eine derartige Initiative zu gewinnen,
dürften wohlmeinende Briefe nicht ausreichen, was natürlich nicht dagegen
spricht, solche zu verschicken. Insbesondere wird es notwendig sein, in der
Bevölkerung für die Friedensperspektive auf der Basis von Volksentscheiden zu
werben. Je mehr Menschen ihre Stimme erheben und die Idee unterstützen,
umso weniger lassen sich die Vorschläge von den hartleibigsten Politikern
ignorieren. Doch welche Chance hätte eine Initiative, die darauf drängt, dass
die betroffene Bevölkerung in der Ukraine selber entscheiden soll, welcher
Nation sie zugehörig sein und in welchem Staat sie leben will?
....und Schritte zu ihrer Realisierung
Zunächst sollten sich die heterogenen Gruppen der Friedensbewegung für die
Idee einer Volksentscheid-Lösung des Ukraine-Konflikts öffnen, sie zu einem
zentralen Punkt ihrer Öffentlichkeitsarbeit machen und sie auf die Straße
tragen. Das eröffnete zudem die Möglichkeit, die Initiative zu erweitern und auf
– so die Kräfte ausreichen – eine Ergänzung des repräsentativen politischen
Systems der Bundesrepublik Deutschland, wie in Artikel 20 des Grundgesetzes
durchaus angelegt, durch basisdemokratische Elemente wie Volksbegehren
und Volksentscheid zu dringen. Dort heißt es in Absatz 2, die Staatsgewalt
werde vom Volke „in Wahlen und Abstimmungen“ ausgeübt. Die Realisierung
einer solchen Volksteilhabe auf Bundesebene harrt weiterhin der Einführung.
Sie böte neue Perspektiven der friedenspolitischen Arbeit. So ließen sich z.B.
traditionelle Forderungen wie Begrenzung der Rüstungsausgaben, Verbot von
3
Rüstungsexporten sowie von Auslandseinsätzen der Bundeswehr durch
Volksbegehren und Volksentscheide eher durchsetzen.
Anzustreben ist es, möglichst viele Mitbürger zu gewinnen und die Politik in
ihrem Sinne zum Handeln zu bewegen. Es geht darum, reichlich
Bündnispartner zu überzeugen wie Vertreter von Gewerkschaften,
Sozialverbänden, Kirchen. Ebenso wichtig wäre es, bekannte Persönlichkeiten
aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft, Kunst und Kultur sowie Offiziere und
Generäle als Multiplikatoren zu gewinnen. Des Weiteren sind die „Leithammel“
und „Allesversteher“ der Medien aufzurufen und zu ermuntern, die derzeit von
ihnen vertretene und unterstützte kriegerische Linie der Bundesregierung
aufzugeben bzw. in Frage zu stellen. Als hilfreich erwiese sich zugleich eine
europäische Vernetzung nebst dem Aufbau friedensfördernder transatlantischer
Kontakte und Maßnahmen. Letztlich sollte ein „Ruf wie Donnerhall“ – nein, nicht
„zum Rhein, zum deutschen Rhein“ –, sondern um den Globus brausen mit
dem Ruf nach Frieden in der Ukraine und dem Vorschlag, die Entscheidung der
Bevölkerung in die Hände zu legen. Das Völkerrecht steht einem
Volksentscheid über eine Sezession nicht entgegen.
Es mag sein, dass der Vorschlag bereits im Vorfeld zerredet oder an den
divergierenden Interessen der „Siegfrieden“-Parteien, ihrem Ringen um
Machterweiterung und -erhalt mit kriegerischen Mitteln scheitern wird. Aber
noch stets war und ist das Unmögliche zu denken, bevor es Wirklichkeit werden
kann. Bert Brecht gibt seiner Friedenshoffnung im Solidaritätslied Ausdruck:
„Schwarzer, Weißer, Brauner, Gelber,
enden ihre Schlächterei’n
reden erst die Völker selber,
werden sie schnell einig sein.”
Anmerkungen
(1) “Wir nähern uns dem gefährlichsten Punkt in der Geschichte der Menscheit” – Interview von
Pierre Heumann mit Noam Chomsky. In: Die Weltwoche, Nr. 9, 2.3.2023, S. 26 ff.
(2) Henry Kissinger: Mein Friedensplan für die Ukraine, in: Die Weltwoche Spezial, 23.2.2023,
S. 9
(3) Sahra Wagenknecht in: Chemnitzer Salon: Frieden und Gerechtigkeit – aber wie? (letzter Aufruf:
8.6.2023)
(4) Sahra Wagenknechts Newsletter (letzter
Aufruf: 8.6.2023)
Der Beitrag wurde - mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor - dem von Hermann Theisen und Helmut Donat herausgegebenen Buch " Bedrohter Diskurs - Deutsche Stimmen zum Ukrainekrieg", Bremen, Donat Verlag 2024, entnommen.
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