Schuldprinzip vs. Solidarität

In der Pandemie werden immer mehr Tabus gebrochen

von Bernd Hontschik
27.02.2022



Als der Präsident und Vorsitzende des 1. Senats des Bundessozialgerichts am 8. Februar 2022 in Kassel an einer der tragenden Säulen unserer Gesellschaft rüttelte, erhob sich kein Sturm der Entrüstung im ganzen Land. Ein wenig Widerspruch gab es zwar, ein Lüftchen nur, aber heute, bloß achtzehn Tage danach, ist es schon wieder vergessen.

Vor fünfzehn Jahren wurde im Zuge einer der unzähligen Gesundheitsreformen eine neue Kategorie von Diagnosen eingeführt: die "selbst verschuldeten" Krankheiten. Für „selbst verschuldete“ Behandlungen kommt die Solidargemeinschaft seitdem nicht mehr auf. Die Kosten müssen die Erkrankten selbst zahlen. Das gilt ausdrücklich für Piercing, für Tätowierungen und für kosmetische Operationen wie Brustoperationen oder Fettabsaugungen. Weitere Diagnosen sind seitdem nicht dazugekommen, weil auch der Gesetzgeber rasch bemerkt hat, dass die Frage der Schuld eigentlich nie geklärt werden kann. Das Schuldprinzip ist nämlich das völlige Gegenteil des Solidarprinzips. Man könnte es sogar als dessen Totengräber bezeichnen. Die Einführung des Schuldprinzips in das Gesundheitswesen und in die Medizin war und ist ein gefährlicher Dammbruch, der so leicht nicht wieder repariert werden kann. Aber dann kam Corona.

Zunächst fielen Mitte des Jahres 2021 einige Politiker: innen, sogar auch eine nicht unerhebliche Zahl von Ärztinnen und Ärzten dadurch auf, dass sie angesichts der aufgeheizten Triage-Hysterie laut darüber nachdachten, ungeimpften Covid-19-Erkrankten die Behandlung im Krankenhaus zu versagen, solange Geimpfte nicht versorgt sind. Dergleichen hat es in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland zuvor noch nie gegeben. Es ist aber bislang zu keiner Triage gekommen, sodass sich dieses Konzept der „Gesundheit für Gehorsame“ nicht der Realität stellen musste.

Dann äußerte sich Stefan Dräger, der Vorstandsvorsitzende der Drägerwerke, die unter anderem Beatmungsgeräte und Masken herstellen: „Impfverweigerer sollen auf Krankenhausbehandlung verzichten“. Den Gipfel an asozialer Demagogie vernahm man aber aus einer Ecke, in der man Solches niemals vermutet hätte: Rainer Schlegel, der Präsident des Bundessozialgerichts, sprach sich im Februar 2022 bei seinem Jahrespressegespräch dafür aus, dass Ungeimpfte Covid- 19-Erkrankte an den Kosten ihrer Behandlung beteiligt werden müssten. „Das sollte dem Versicherten weh tun“, sagte er. Schlegel sprach von bis zu 200.000 Euro, die eine Krankenhausbehandlung bei schwerem Verlauf einer Covid- 19-Erkrankung die Allgemeinheit kosten könne.

Wenn ein Firmenchef in solchen Kategorien denkt, kann man sich ja noch achselzuckend abwenden. Er weiß es nicht besser. Wenn aber der Präsident des Bundessozialgerichts und Vorsitzende des 1. Senats, der ausgerechnet für alle Fragen der gesetzlichen Krankenversicherung in unserem Land zuständig ist, die Grundlagen unseres Sozialsystems aushebeln will, dann müssen alle Alarmglocken läuten. Das Solidarprinzip ist schließlich keine Vereinssatzung. Es ist das Fundament unseres gesamten Sozialsystems. Es ist eine der wichtigsten Säulen, auf denen unsere Gesellschaft aufgebaut ist.

Rainer Schlegel präsidiert noch ein Jahr lang bis zu seinem Ruhestand. Bis dahin müssen die Urteile aus seinem 1. Senat mit höchster Aufmerksamkeit gelesen werden.

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