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Die dunkle Kehrseite unserer westlichen Werte
Zur verdrängten Mitverantwortung Deutschlands, Europas und des Westens für gravierende Fluchtursachen und tödliche Fluchtbedingungen
von Rolf Gössner*
Der folgende Beitrag entstammt dem Buch "Todesursache: Flucht. Eine unvollständige Liste", hrsg. von Kristina Milz und Anja Tuckermann und wurde uns von Rolf Gössner dankenswerter Weise zur Verfügung gestellt. Mehr zum Buch am Ende des Beitrags.
Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie,
Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte
der Personen, die Minderheiten angehören. (Artikel 2 des Vertrags der Europäischen Union)
Täglich werden wir mit der verzweifelten Lage von Geflüchteten und ihren Schicksalen konfrontiert.
Fast täglich kommen Menschen auf der Flucht ums Leben. Die erschreckenden Nachrichten
über das Massensterben lassen sich kaum ertragen, ohne diese grausame Realität mehr oder weniger
zu verdrängen – und damit auch gleich die Fluchtbedingungen und Fluchtursachen, die mit uns
und der europäischen Politik mehr zu tun haben, als uns lieb sein kann. Vor diesem Hintergrund
bekommen die positiv besetzten Begriffe „Willkommenskultur“ und „westliche Werte“ einen mehr
als bitteren Beigeschmack.
Dieses Buch – eine verstörende Dokumentation menschlichen Leids und einer humanitären Katastrophe
– sollte uns dazu zwingen, verstärkt über die Flucht- und Migrationspolitik der EU und ihrer
Mitgliedstaaten nachzudenken wie auch über die vielfältigen Ursachen von Flucht und Migration.
Dabei geht es um aktuelle Missstände, essentielle Zusammenhänge und historische Lasten, die im
medialen Alltag und der herrschenden Politik allzu leicht untergehen. Dazu gehört,
— dass Europa und der Westen insgesamt politische Mitverantwortung tragen für die vielfältigen
Fluchtursachen, wie etwa Terror, Krieg, wirtschaftliche Ausbeutung und die Folgen des Klimawandels,
die dazu führen, dass Menschen zu Millionen in die Flucht getrieben werden;
— dass die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten politische Mitverantwortung tragen für die
tödlichen Fluchtbedingungen auf den Wegen nach Europa, die täglich Menschenleben fordern;
— und dass Menschen, die Krieg, Terror, Unterdrückung, Ausbeutung, Verfolgung, Hunger und Not
mühsam entronnen sind und die Flucht überlebt haben, hierzulande nicht nur von vielen nicht
willkommen geheißen werden, sondern allzu häufig auf Angst, Aggression und Abwehr stoßen,
sich rassistischer Gewalt ausgesetzt sehen und erneut in Lebensgefahr geraten.
Tödliche Fluchtbedingungen durch Abschottungspolitik der EU und ihrer Mitgliedstaaten
Schon viel zu lange sind wir Zeugen einer der größten humanitären Katastrophen und einer der
wohl größten politischen und moralischen Herausforderungen unserer Zeit: dem täglichen, massenhaften
Tod von Flüchtlingen an Europas Grenzen. Wir richten an jede/n von uns, an alle Zivilgesellschaften
und Politiker Europas die Frage: Wie viele denn noch? Wie viele Menschen müssen noch
sterben, bevor wir uns zu einer mutigen, zukunftsweisenden europäischen Lösung für die Rettung
und Aufnahme von Flüchtlingen entschließen? (aus dem Aufruf von Unterstützer*innen von SOSMéditerranée,
2015)
Seit dem Jahr 1993 sind zehntausende Menschen auf der Flucht nach und in Europa ums Leben gekommen
– UNITED for Intercultural Action dokumentiert inzwischen mehr als 51.000 Tote. Viele
Flüchtende verdursten bereits auf ihrem Fluchtweg in der Wüste oder ertrinken im Mittelmeer. Allein
2016 ertranken im Mittelmeer fast 5.000 Flüchtende oder gelten als vermisst, so viele wie nie
zuvor. Jedes Jahr werden laut UN-Flüchtlingshilfswerk weit mehr als 1.000 Menschen als vermisst
oder verstorben registriert, 2021 mehr als 3.000, 2022 etwa 2.000. Nach Angaben der zivilen Seenotrettungsorganisation
SOS Humanity hat die Zahl der von 2014 bis 2022 im Mittelmeer Ertrunkenen
und Vermissten die Marke von 20.000 überschritten. Wie viele Menschen wirklich umgekommen
sind, bleibt allerdings im Dunkeln.
Die Mittelmeerroute ist und bleibt die gefährlichste und tödlichste Meerquerung der Welt. „Das
‚Massengrab Mittelmeer’ ist die Schande Europas schlechthin“, so der ehemalige Berliner Verwaltungsrichter
Percy MacLean. Es gehört tatsächlich zu den schrecklichen Erkenntnissen, auf die immer
wieder mit Nachdruck aufmerksam zu machen ist: Die rigorose Abschottungspolitik der EU
und ihrer Mitgliedstaaten ist direkt oder indirekt mitursächlich dafür, dass fast täglich Menschen
auf der Flucht nach Europa sterben. Die Abriegelung der Balkan-Route, mit rasiermesserscharfem
Stacheldraht hochgerüstete Grenzzäune, die Europäische Grenzschutz-Agentur Frontex, die noch
massiv ausgebaut wird, das Grenzüberwachungssystem Eurosur, das bereits erheblich aufgerüstet
worden ist und die Außengrenzen mit Satelliten, Drohnen und Sensoren überwacht, willkürliche
Inhaftierungen, gewaltsame Abschiebungen und illegale Zurückdrängungsaktionen (Pushbacks) –
all dies trägt zur Abschottung Europas bei, mit der Folge, dass die Fluchtwege nach Europa immer
riskanter und lebensgefährlicher geworden sind.
Eine vollkommen andere Behandlung erfahren dagegen die etwa eine Million Kriegsflüchtlinge
aus der von Russland angegriffenen Ukraine seit 2022, die weder aufgehalten noch zurückgedrängt,
sondern in Deutschland bereitwillig aufgenommen werden; gemäß EU-Richtlinie müssen
sie auch nicht das herkömmliche Asylverfahren durchlaufen und erhalten raschen Zugang zu
Transferleistungen, Ausbildung und Arbeit. Dies gilt allerdings nicht für Menschen aus der Ukraine,
die keinen ukrainischen Pass haben, aber ebenfalls vor dem Krieg in der Ukraine fliehen müssen.
Angesichts solcher Ungleichbehandlung und Privilegien beklagen Hilfsorganisationen eine
Zweiklassengesellschaft von Geflüchteten und fordern Gleichbehandlung.
Die sicherheitstechnologischen Abschottungsmaßnahmen zum „Schutz“ der „Festung Europa“ werden
ständig ausgebaut; und sie werden flankiert durch jene „menschenverachtenden Flüchtlingsdeals“
(Pro Asyl), wie sie mit der autokratischen Türkei und mit afrikanischen Regimen geschlos3
sen wurden und weiterhin werden, um Flüchtende schon vor den Toren Europas im Zweifel gewaltsam
an ihrer Flucht nach Europa zu hindern. Auffanglager wie etwa in Libyen mit menschenunwürdigen
Bedingungen sind die Folge. Zur Sicherung der scheinbar neuen Grenzen Europas, die
längst in Afrika, der Türkei und auf dem Balkan entstanden sind, zahlen europäische Regierungen
Unsummen von Steuergeldern – auch an Regime und Transitländer, die Menschenrechte mit Füßen
treten und die für ihre Türsteherdienste gezielt mit Überwachungs- und Sicherungstechnologie
aufgerüstet werden. Diese Politik der EU versperrt Asyl- und Schutzsuchenden sichere Fluchtwege
und zwingt sie in ihrer Not auf teure, riskante und lebensgefährliche Routen und Transportmittel
sowie in die Hände von skrupellosen Schlepperbanden.
Diese Abschottungspolitik der EU wird sowohl in der Bundesrepublik als auch europaweit zunehmend
begleitet von einer fremdenfeindlichen und rassistischen Debatte sowie von einem ausgrenzenden
Ausländer- und Asylrecht nach dem Motto: Grenzen dicht, „sichere Herkunftsländer“ küren,
Lagerunterbringung und Langzeit-Isolierung in sogenannten Transit- und Ankerzentren und
schneller abschieben. Zweifelhafte Ablehnungen von Asylanträgen sowie gewaltsame Abschiebungen
– selbst von traumatisierten oder integrierten Menschen – in Krisengebiete oder in angeblich
sichere Herkunfts- oder Drittstaaten sind keine Seltenheit.
Dass bei diesem menschengefährdenden und todbringenden Flüchtlingsabwehrprogramm tatsächlich
der Schutz der Außengrenzen, die faktisch zu rechtsfreien Räumen geworden sind, im Vordergrund
steht – voll zu Lasten des völker- und menschenrechtlich gebotenen Schutzes von Flüchtenden
–, zeigen auch staatliche Aktionen gegen zivile Rettungsprojekte im Mittelmeer wie SOSMéditerranée
(Aquarius, Ocean Viking), SOS Humanity, Sea-Watch, Ärzte ohne Grenzen, Jugend rettet,
Mission Lifeline, Sea-Eye oder Lifeboat. Zu den staatlichen Blockade- und Sabotage-
Maßnahmen, die einzelne EU-Mitgliedstaaten zu verantworten haben, gehören:
— die Erschwerung und aktive Be- und Verhinderung der zivilen Seenotrettung im Mittelmeer – u.
a. durch Abdrängen, Festhalten oder Beschlagnahmung von Rettungsschiffen oder durch Verweigerung
der Ausschiffung Geretteter in sichere europäische Häfen unter Inkaufnahme von
Todesfällen;
— die Kriminalisierung freiwilliger Lebensretter*innen und humanitärer Organisationen wegen
Menschenschmuggels oder als angebliche Schleppergehilfen – haltlose Verdächtigungen, die
immer wieder zu Inhaftierungen und langwierigen existenzbedrohenden Prozessen führten;
— die europäische Unterstützung und Kooperation mit der sogenannten Küstenwache Libyens und
mafiösen Grenzschutzeinheiten, die Fliehende praktisch im europäischen Auftrag bzw. mit europäischer
Duldung gewaltsam zurückhalten oder zurückholen und in Internierungslager verschleppen,
in denen entsetzliche Zustände herrschen und schwere Menschenrechtsverletzungen
begangen werden.
Allein 2022 wurden SOS Humanity zufolge mehr als 22.500 flüchtende Kinder, Frauen und Männer
zumeist auf See abgefangen und nach Libyen verschleppt, woher sie geflohen waren (2021 sollen
es mehr als 32.000 gewesen sein). Trotz massiver Kritik an solchen Menschenrechtsverletzungen
hält die EU an der Unterstützung, Ausbildung und Finanzierung der libyschen Küstenwache fest.
Auch der kaum kontrollierbaren Europäischen Grenzschutz-Agentur Frontex wird vorgeworfen, in
illegale Pull- und Pushbacks (Rückholungs- und Zurückdrängungsaktionen) verwickelt zu sein.
Frontex könnte, nein: müsste solche Aktionen verhindern – stattdessen vertuschte sie solche Menschenrechtsverstöße.
2022 musste ihr Direktor Fabrice Leggeri u.a. wegen eines solchen Vorwurfs
zurücktreten.
Aufgrund eines von Pro Asyl eingeleiteten Verfahrens hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte
Griechenland für eine Pushback-Operation in der Ägäis (2014) verurteilt, bei der elf
Menschen ums Leben kamen. Griechenland muss die Betroffenen und die Angehörigen der Toten
entschädigen (Urteil vom 7.07.2022; Az. 5418/15).
Die Politik der EU und einzelner ihrer Mitgliedstaaten, Geflüchtete primär als Sicherheitsrisiken zu
betrachten und wie illegale Eindringlinge, ja Invasoren zu behandeln und zurückzuschlagen, verletzt
fundamentale und universell geltende Menschenrechte, versperrt den Zugang zu Asylverfah4
ren für Schutzsuchende und bricht Völkerrecht. Mit der Wahl der neuen rechten italienischen Regierung
im Jahr 2022 spitzen sich die humanitäre Lage für Menschen auf der Flucht über das Mittelmeer
und die Bedingungen für die zivile Seenotrettung weiter zu. Das Sterbenlassen von Menschen
vor und an den Außengrenzen Europas und die Beihilfe zu Verschleppung, Zurückweisung
und Abschiebung von Geflüchteten in Verfolgerstaaten und Transitländer, in Zwangsarbeit und
Versklavung, Folter und Tod gehören zu den dunkelsten Kapiteln der europäischen Politik, die
doch so viel auf ihre eigenen Werte hält.
Hinzu kommen die katastrophalen Zustände an der Grenze zur spanischen Exklave Melilla sowie
ganz besonders in griechischen Flüchtlingslagern, die das Anti-Folter-Komitee des Europarates
2019 in einem Expertenbericht als „unmenschlich und entwürdigend“ kritisierte.
Rassistische Hetze und rechte Gewalt gegen Geflüchtete und Migranten
Szenenwechsel: 1993 erlebte die Bundesrepublik eines der schwersten Verbrechen in ihrer Geschichte:
den Solinger Brand- und Mordanschlag, bei dem fünf junge Angehörige der türkischstämmigen
Familie Genç ums Leben kamen. Nur drei Tage vor diesem rassistisch motivierten Anschlag
hatte – nach einer verantwortungslosen und agitatorischen Debatte mit Schlagworten wie
„Asylantenflut“ und „Überfremdung“ – eine „große Koalition“ aus CDU, FDP und SPD das Grundrecht
auf Asyl demontiert. „Erst stirbt das Recht – dann sterben Menschen“ – klarer, als es später
auf einer Mauer nahe des Anschlagsorts zu lesen war, kann man den Zusammenhang dieser beiden
Ereignisse kaum formulieren.
Längst befinden wir uns wieder in einer äußerst prekären Phase, in der hoch gefährliche rechtspopulistische,
nationalistische und fremdenfeindliche Debatten bis hinein in die Mitte der Gesellschaft
stattfinden, Debatten um Überfremdung, Asylmissbrauch, Illegale und kriminelle Ausländer. Diese
Angst- und Ausgrenzungsdebatten, die von AfD-Politikern und auch von Teilen der CDU/CSU geschürt
und instrumentalisiert werden, befeuern vorhandene Bedrohungsgefühle und Verunsicherung,
machen Fremde, Geflüchtete und sozial abgehängte Menschen zu Sündenböcken und sind
letztlich geeignet, Ursachen und Verantwortlichkeiten für existierende gesellschaftliche Problemlagen
und Krisen zu verdecken oder zu verdrehen. Und das mit fatalen Folgen: Menschen, die Verfolgung,
Krieg, Terror und Tod mühsam entronnen sind, werden von vielen nicht nur nicht willkommen
geheißen, sondern sie stoßen auch auf Ängste, Abwehr und Feindschaft und geraten erneut in
Gefahr. Nach 2015 war angesichts der zu Hunderttausenden in die Bundesrepublik geflüchteten
Menschen zwar viel von „Wir schaffen das“ und „Willkommenskultur“ die Rede, doch diese weitgehend
zivilgesellschaftliche Unterstützungsarbeit, die auch und gerade staatliche Defizite zu kompensieren
versucht, wird zunehmend begleitet und konterkariert von alltäglicher rassistischer Hetze
und Gewalt. Eine besorgniserregende Entwicklung, die trotz ihrer blutigen Bilanz immer wieder
aus dem öffentlichen Blick gerät.
Die fast täglichen Angriffe auf Asylbewerber*innen und andere Geflüchtete gehen weiter. Flüchtlingsheime
brennen, Übergriffe auf Geflüchtete, ehrenamtliche Helfer und Moscheen reißen nicht
ab. Nach Angaben des Bundeskriminalamts kam es 2015 zu fast 1.500 einschlägigen Gewalttaten,
darunter mehr als 1.000 Straftaten gegen Flüchtlingsunterkünfte sowie Übergriffe auf Geflüchtete –
das sind fünfmal mehr als 2014. 2016 kam es laut Bundeszentrale für Politische Bildung insgesamt
zu mehr als 3.700 Straftaten und Angriffen gegen Flüchtlingsunterkünfte, Geflüchtete und Helfer*
innen – also zu zehn Vorfällen am Tag. Freital, Dresden, Tröglitz, Chemnitz und viele weitere
Orte, wahrlich nicht nur im Osten des Landes, stehen für diese Gewalt. Von 2015 bis einschließlich
2021 dokumentiert die Amadeu Antonio Stiftung in einer gemeinsamen Chronik mit Pro Asyl mehr
als 11.000 fremdenfeindliche Vorfälle, davon 285 Brandanschläge und fast 2.000 Körperverletzungen.
Das heißt: Menschen, die dem Tod auf der Flucht entrinnen konnten und hierzulande Schutz
vor Verfolgung, Folter und Tod suchen, müssen immer wieder um Leib und Leben fürchten.
Diese Entwicklung vollzieht sich vor einem mörderischen Hintergrund, denn in der Bundesrepublik
sind seit 1990 mehr als 200 Menschen von rassistisch eingestellten Täter*innen umgebracht worden.
Der Mordanschlag von Solingen war der vorläufige Tiefpunkt einer Serie weiterer rassistisch
motivierter Attentate: Hoyerswerda, Hünxe, Rostock, Quedlinburg, Cottbus, Lübeck und Mölln sind
zu traurigen Fanalen geworden für diesen gewalttätigen Rassismus. Nach den NSU-Morden und -
Terroranschlägen, die in der offiziellen Statistik zunächst als „organisierte Kriminalität“, aber nicht
als politisch motivierte, rechtsextreme Straftaten gelistet wurden, mussten wir zehn weitere Tote
hinzurechnen. 2019 ist der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke von einem Nazi ermordet
worden – weil er Geflüchtete willkommen geheißen und eine „Politik der Weltoffenheit“ eingefordert
hatte. Ebenfalls 2019 sorgte der antisemitische Anschlagsversuch in Halle auf eine Synagoge
für Entsetzen, in dessen Verlauf der Täter zwei Menschen ermordete. Und 2020 sind bei dem rassistischen
Terroranschlag in Hanau neun Menschen mit Migrationsgeschichte umgebracht worden.
Im NSU-Komplex war es im Übrigen zu teils rassistischen Polizeiermittlungen („Soko Bosporus“,
Ermittlungen gegen die türkischstämmigen Opfer-Familien), zu staatlichen Verstrickungen des
„Verfassungsschutzes“ in Naziszenen und zu anschließenden skandalösen Vertuschungen gekommen.
Wie überhaupt der staatliche Umgang mit rechter Gewalt und Nazi-Gruppen insgesamt lange
Zeit von ideologischen Scheuklappen und strukturellem Rassismus geprägt war, die zu Ignoranz
und systematischer Verharmlosung des Nazispektrums führten. Auch der Polizeialltag bleibt davon
nicht verschont, denken wir nur an Racial Profiling – also das rassistische Sortieren von Menschen
nach ihrem Aussehen – im Zuge anlassloser Polizeikontrollen. Tatsächlich reicht der xenophobe
Nährboden nicht nur weit in die Mitte der Gesellschaft, sondern auch weit hinein in staatliche Institutionen
wie Bundeswehr, Geheimdienste und Polizei. Braune Netzwerke und Chatgruppen in Polizeibehörden
haben wiederholt bundesweit Schlagzeilen gemacht – mit hunderten rechtsextremer
Verdachtsfälle sowohl in der Bundespolizei als auch in etlichen Bundesländern. Gegen zahlreiche
Polizeibeamte wird wegen rechtsextremer und rassistischer Umtriebe ermittelt. Wenn Teile der
Polizei als Vertreter des staatlichen Gewaltmonopols rassistisch agieren, ihre Machtbefugnisse
missbrauchen und sich als anfällig für antidemokratisches, nationalistisches und rassistisches Gedankengut
erweisen, besteht akuter Handlungsbedarf.
Institutioneller Rassismus und rechtsextreme Gewalt dürfen nicht länger gesellschaftlich verdrängt
oder verharmlost werden. Wir müssen die Politik der „Inneren Sicherheit“, die Strafverfolgungsund
„Verfassungsschutz“-Behörden – die lange Zeit so grauenhaft versagt haben – verstärkt in
Pflicht und Verantwortung nehmen. An einer kritischen Aufarbeitung des strukturellen Versagens
sowie an einer grundsätzlichen Strukturreform und Neuaufstellung der Sicherheitsbehörden führt
insoweit kein Weg vorbei, genauso wenig wie an einer rückhaltlosen Aufklärung und konsequenten
Ahndung aller rechtsextremen Verbrechen und staatlichen (V-Mann-)Verstrickungen in gewaltbereite
Naziszenen.
Nur eine wache und kritische Öffentlichkeit kann genügend politischen Druck entfalten, um Xenound
Islamophobie zu ächten, institutionellen Rassismus anzuprangern, eine nachhaltige Wende im
Umgang mit rassistischer Hetze und rechter Gewalt einzufordern und den Opferschutz zu stärken.
Dazu gehört auch die Einrichtung externer unabhängiger Stellen beziehungsweise Polizeibeauftragter
zur besseren Kontrolle der Polizei sowie die rechtsstaatliche Zügelung und demokratische
Kontrolle des „Verfassungsschutzes“. Was die Ampelregierung seit 2022 mit ihrem „Aktionsplan
gegen Rechtsextremismus“ und dem „Demokratiefördergesetz“ in die Wege geleitet hat, ist zwar
vom Ansatz her wichtig und richtig, jedoch längst nicht ausreichend, weil die geplanten Maßnahmen
gerade die problematischen Strukturen und den je eigenen Korpsgeist der Sicherheitsbehörden
außer Acht lassen.
Auf der Suche nach Fluchtursachen, ihren Urhebern und Profiteuren
Ein weiterer Problemkomplex von grundsätzlicher Bedeutung ist die westliche Mitverantwortung
für Fluchtursachen. Mit ihrer Art von Flüchtlings- und Migrationspolitik, aber auch mit ihrer Art
von Antiterrorkampf, Geo-, Wirtschafts- und Klimapolitik zeigen sich die wechselnden Bundesregierungen,
die Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten sowie die EU und der Westen insgesamt noch immer
weitgehend ignorant gegenüber den tatsächlichen Ursachen und Gründen von Krieg, Terror,
Gewalt, Ausbeutung, Klimakrise und den daraus folgenden Fluchtbewegungen, an denen westliche
Staaten und Staatengemeinschaften schon lange maßgeblich beteiligt waren und es nach wie vor
sind.
Schließlich spielt der Westen, spielten EU, USA und NATO eine desaströse Rolle speziell im Nahen
und Mittleren Osten – mit Hunderttausenden toter Zivilisten allein seit 9/11. Dort warf und wirft
die sogenannte westliche Wertegemeinschaft für ihre eigenen geopolitischen, ökonomischen und
militärischen Machtinteressen systematisch die so hochgehaltenen eigenen Werte über Bord – oft
genug getarnt als Antiterrorkampf, humanitäre Interventionen oder militärische Nothilfe. Mit ihren
rohstoffsichernden Einmischungen, ausbeuterischen Handelsabkommen, verheerenden Wirtschaftssanktionen
und Waffenexporten in Krisen- und Kriegsregionen sowie an Diktaturen, mit ihren
völkerrechtswidrigen Angriffskriegen und Kriegsverbrechen, mörderischem Drohnenbeschuss
und Folter – mit all diesen neoimperialen Interventionen machte sich der Westen, auch die Bundesrepublik,
mitverantwortlich für die Zerstörung menschlicher Lebensgrundlagen, mitverantwortlich
für Ausbeutung, Armut, Folter und Tod, für den Zerfall ganzer Staaten (vgl. dazu Michael
Lüders:
Wer den Wind sät. Was westliche Politik im Orient anrichtet, München 2015, sowie
Die
scheinheilige Supermacht, München 2021). Zugespitzt formuliert: Mit dem „War on Terror“, besonders
im Irak und in Afghanistan, aber auch in Somalia, Jemen, Libyen, Pakistan und Syrien, beförderte
der Westen wahre Terroristen-Rekrutierungsprojekte und züchtete sich seine eigenen Feinde
heran.
Bereits Ende 2015 haben Ex-Drohnenpiloten das US-Drohnenprogramm als „eine der verheerendsten
Triebfedern des Terrorismus und der Destabilisierung“ bezeichnet – ein Mord-
Programm, das auch über Ramstein, also über Deutschland abgewickelt wird, das ohnehin längst
integraler Bestandteil des US-geführten „Kriegs gegen den Terror“ geworden ist: Von deutschem
Boden aus – insbesondere aus Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Hessen – organisier(
t)en die USA Kriegseinsätze, Entführungen, Folter und extralegale Hinrichtungen von Terrorverdächtigen
per Drohneneinsatz. Die Journalisten Christian Fuchs und John Goetz haben dies
2013 in ihrem Buch
Geheimer Krieg. Wie von Deutschland aus der Kampf gegen den Terror gesteuert
wird dokumentiert. Die Bundesrepublik nahm als NATO-Verbündeter am desaströsen USKrieg
in Afghanistan teil und leistete logistische Hilfe im völkerrechtswidrigen Krieg der USA und
der „Koalition der Willigen“ gegen den Irak; sie war beteiligt an der Destabilisierung Libyens und
den verheerenden Wirtschaftssanktionen gegen Syrien – einem Waren- und Personenembargo
der EU, das maßgeblich zur Verarmung des Landes und zur Aushungerung der Zivilbevölkerung
beitrug.
Darüber hinaus ist die Bundesrepublik mit ihren Rüstungs- und Kriegswaffenexporten an der Militäraufrüstung
der autoritären Regime Ägyptens, Saudi-Arabiens, Katars und der Türkei beteiligt.
2022 genehmigte die Ampel-Regierung laut Bundesministerium für Wirtschaft Exporte im Wert
von mindestens 8,35 Milliarden Euro. Dies ist der zweithöchste Wert in der Geschichte der Bundesrepublik;
nur 2021 war die Summe mit 9,35 Milliarden Euro noch höher (nach knapp 6 Milliarden
im Jahr 2020). Mehr als ein Drittel dieser Kriegswaffen und Rüstungsgüter gehen 2022 an „Drittländer“:
an die vom russischen Angriffskrieg betroffene Ukraine (2,25 Mrd.), aber auch unter anderem
in die Krisenregion Südkorea und an Singapur, trotz dortiger schwerer Menschenrechtsverletzungen,
sowie an die im Jemen kriegführenden Länder Saudi-Arabien, Vereinigte Arabische Emirate
und Ägypten. Dies geschieht, obwohl der Koalitionsvertrag eine restriktivere Rüstungsexportpolitik
postuliert und in einem Eckpunktepapier des Bundeswirtschaftsministeriums vom Oktober
2022 zu lesen ist, künftig Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit größeres Gewicht
beizumessen. Dafür soll ein Rüstungsexportkontrollgesetz sorgen, das für 2023 geplant ist – auch
mit Regelungen, die künftig mehr Kontrolle, Restriktionen und Transparenz gewährleisten sollen.
Angesichts der ausufernden Rüstungsexportpraxis und der 2022 beschlossenen Aussetzung des
Verbots, Waffen in Kriegsgebiete zu liefern, ist ein restriktives und scharfes Rüstungsexportkontrollgesetz
zwar mehr als dringlich, doch eher unwahrscheinlich.
Wer mit Rüstungsexporten in Krisen- und Kriegsgebiete sowie an Diktaturen und mit sogenannten
Antiterrorkriegen, mit Regime-change-Interventionen sowie mit – vorwiegend die Zivilbevölkerung
schädigenden – Wirtschaftssanktionen dazu beiträgt, ganze Regionen zu zerstören und Staaten
zu destabilisieren, erntet nicht etwa mehr Sicherheit, sondern früher oder später selbst Terror
und Instabilität – auch bei sich zuhause in Europa und den USA. In dieser westlichen Befeuerung
und Mitverursachung von Krieg und Terror, auch von Ausbeutung, Klimakatastrophen und Elend
liegt letztlich die politische Mitverantwortung dafür, dass Millionen Menschen aus diesen Regionen
in die Flucht getrieben werden:
„Wir kommen zu euch, weil ihr unsere Länder zerstört.“ Diese herbe Einsicht gehört zum ganzheitlichen
Verständnis der realen Kriegs-, Terror- und Fluchtursachen genauso wie die koloniale
und postkoloniale Vorgeschichte mitsamt den vom Westen gestützten Nachfolge-Regierungen
und -Regimen.
All dies gehört zur überaus dunklen Kehrseite unserer hehren westlichen Werte. Es wird im Übrigen
auch keinen nachhaltigen Frieden und keine soziale Gerechtigkeit geben ohne eine radikale
Änderung der aggressiven Geo-, Wirtschafts- und Agrar(subventions)politik, der ausbeuterischen
Welthandels- und Rohstoffpolitik sowie der bisherigen Sozial-, Umwelt- und Klimapolitik. Denn es
sind gerade auch die kapitalistische Wirtschaftsweise und unser westlicher Konsum- und Lebensstil,
die anderswo töten und Menschen zur Flucht zwingen.
Auswege aus der humanitären Katastrophe?
Wir wollen die illegale Zurückweisung und das Leid an den Außengrenzen beenden. (…) Es ist eine
zivilisatorische und rechtliche Verpflichtung, Menschen nicht ertrinken zu lassen. Die zivile Seenotrettung
darf nicht behindert werden. Wir streben eine staatlich koordinierte und europäisch getragene
Seenotrettung an. (Aus dem Koalitionsvertrag der Ampelregierung 2021)
Eine Umsetzung dieses überfälligen politischen Anliegens wird nicht ohne eine radikale Änderung
der bisherigen EU-Flüchtlingspolitik möglich sein – die allerdings vollkommen anderes aussehen
muss, als der EU-Asylkompromiss vom Juni 2023. Denn diese EU-Flüchtlingspolitik ist nach wie vor
darauf ausgerichtet, Fluchtwege nach Europa und an den Außengrenzen mehr und mehr zu verplomben
– unter Verstoß gegen Menschenrechte und Völkerrecht. Nur durch die Einrichtung sicherer
und legaler Fluchtwege und Korridore nach Europa für Schutzsuchende und mit einer fairen
Verteilung, Behandlung und Integration von Geflüchteten innerhalb der EU und ihren Mitgliedstaaten
kann die Situation zum Besseren verändert werden. Dasselbe gilt für starke Hilfen zur Verbesserung
der Lebensgrundlagen und -bedingungen in den Heimatländern der Geflüchteten und in
den Flüchtlingslagern ihrer Nachbarländer.
Zu einem zielführenden Forderungskatalog gehören auch menschenrechtskonforme Alternativen
zu den milliardenschweren „Flüchtlingsdeals“ wie etwa mit der Türkei und den sogenannten Migrationspartnerschaften
mit autokratischen Regimen in Afrika, mit denen sich Europa zu Lasten
der Menschenrechte Flüchtende „vom Hals halten“ will und sich korrumpier- und erpressbar
macht. Damit werden Flucht und Flüchtlinge bekämpft – nicht aber Fluchtursachen. Auf diese Weise
sponsern und stabilisieren europäische Staaten mit EU-Aufrüstungshilfen autokratische Staaten,
ihre Militär- und Repressionsapparate – und verschärfen damit Fluchtgründe, anstatt sie zu beseitigen.
Nicht zuletzt muss die Be- und Verhinderung ziviler Seenotrettung umgehend gestoppt werden, um
der Pflicht nach internationalem Recht, Menschen aus Seenot zu retten, nachkommen zu können.
Der Einsatz für Schiffbrüchige ist eine Verpflichtung der EU-Mitgliedstaaten, zumal sie an der katastrophalen
Situation entscheidenden Anteil haben – und wir dürfen sie aus ihrer Verantwortung
nicht entlassen. Deshalb fordert etwa die zivile Seenotrettungsgesellschaft SOS Méditeranée, ebenso
wie SOS Humanity und das Bündnis Seebrücke, schon lange von der EU, ein funktionierendes europäisches
Seenotrettungssystem im Mittelmeer zu etablieren, das die Rettung des Lebens Schiffbrüchiger
zum erklärten Ziel hat. Nur so lässt sich das Massensterben von fliehenden Menschen
endlich beenden, nur so können Menschenwürde und universelle Menschenrechte sowie die
schändlich verratenen Werte Europas endlich Geltung erlangen.
Mehr zum Buch "Todesursache: Flucht"
Für die vergangenen dreißig Jahre sind inzwischen mehr als 51.000 Menschen, die auf der Flucht nach und in Europa ums Leben gekommen sind, in einer Liste dokumentiert, die das europaweite Netzwerk UNITED for Intercultural Action mit Sitz in Amsterdam führt. Zum Internationalen Tag der Menschenrechte am 10. Dezember 2018 erschien die Liste erstmals bei Hirnkost als Buch mit dem Titel „Todesursache: Flucht“ – unterstützt von mehr als 60 Organisationen, die es bei ihren Aktionen einsetzten. Es gab Theater- und Schullesungen, Kulturevents und viele Diskussionsveranstaltungen. Die Erstauflage (10.000 Exemplare) war zum Erscheinungstermin quasi bereits vergriffen. Zum Weltflüchtlingstag am 20. Juni 2023 erscheint nun die dritte, überarbeitete Auflage mit der bis Februar 2023 ergänzten Liste.
Die meisten Toten sind ohne Namen verzeichnet. Die Herausgeberinnen Kristina Milz und Anja Tuckermann haben einige Namen recherchiert und möchten die Menschen, die sie waren, dem Vergessen entreißen, um das Ausmaß dieser Tragödie besser zu fassen zu bekommen – und der Debatte um Flucht und Tod wieder ein menschliches Antlitz zu geben.
Die mehr als 600 Buchseiten umfassende Liste wird ergänzt um kurze Porträtgeschichten von einigen der Gestorbenen, Berichten von Überlebenden und Beiträgen von
· Heinrich Bedford-Strohm (Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern / Weltkirchenrat),
· Carlos Collado Seidel (Universität Marburg),
· M. Moustapha Diallo (Publizist),
· Rolf Gössner (Internationale Liga für Menschenrechte),
· Grupa Granica aus Polen,
· Angela Hermann (NS-Dokumentationszentrum München),
· Stephan Lessenich (Frankfurter Institut für Sozialforschung),
· Heike Martin (Refugio München),
· Yirgalem Fisseha Mehbrahtu (Schriftstellerin und Journalistin),
· Karl-Heinz Meier-Braun (Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen),
· Doris Peschke (Kommission der Kirchen für Migranten in Europa),
· Heribert Prantl (Süddeutsche Zeitung),
· Stephan Reichel (matteo e.V. – Asyl und Kirche),
· Estela Schindel (Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder)),
· SOS Bihać aus Bosnien, SOS Humanity u. a.
Die Initiatorinnen und Herausgeberinnen des Projektes sind:
Kristina Milz, Jahrgang 1988, schreibt als freiberufliche Autorin Essays, Reportagen und Porträts, die sie immer wieder auch in den Nahen Osten führen; als Historikerin setzt sie sich insbesondere mit der transkulturellen Geschichte des 20. Jahrhunderts auseinander. Für ihre Arbeiten erhielt sie Preise und Stipendien.
Anja Tuckermann, geboren 1961, ist Autorin von Romanen, Erzählungen, Theaterstücken, Libretti und Bilderbüchern. Ihr Werk wurde vielfach ausgezeichnet und in 13 Sprachen übersetzt.
"Todesursache:Flucht. Eine unvollständige Liste - 3. akt. Neuauflage 2023". Hirnkost Juni 2023. Mehr Informationen zu diesem Projekt auf: flucht.hirnkost.de
Über den Autor:
Rolf Gössner, Dr. iur., *1948, Jurist und Autor zahlreicher Publikationen zum Themenspektrum Innere Sicherheit, Bürgerrechte und demokratischer Rechtsstaat. Kuratoriumsmitglied der Internationalen Liga für Menschenrechte, Mitherausgeber des Grundrechte-Reports und der Zweiwochenschrift für Politik / Wirtschaft /Kultur Ossietzky sowie von 2000 bis 2020 Mitglied der Jury zur Verleihung des Negativpreises BigBrotherAward. Rolf Gössner lebt in Bremen.