Wie das Steuersystem deformiert, die Reichen begünstigt und die Armen belastet wurden

von Christoph Butterwegge*

Zu der sich vertiefenden Kluft zwischen Arm und Reich hat die Steuerpolitik unterschiedlich zusammengesetzter Bundesregierungen maßgeblich beigetragen. Deshalb lohnt ein Blick zurück auf das Steuersystem der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg und die Veränderungen, denen es im Laufe der Zeit unterlag. Den größten Einfluss auf seinen ursprünglichen Zustand nahmen die Siegermächte, deren Maßnahmen und politische Leitlinien über die Einkommens- und Vermögensverhältnisse in der jeweiligen Besatzungszone entschieden. Während die Sowjetunion auf eine rasche Enteignung von Unternehmern und Großgrundbesitzern drängte, um die Wurzeln des Faschismus, Rassismus und Militarismus zu beseitigen, sorgten die westlichen Alliierten dafür, dass die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse erhalten blieben..

Steuerpolitisch nahm der Alliierte Kontrollrat entscheidende Weichenstellungen vor, die sogar noch wirkten, als die Bundesrepublik aufgrund der Pariser Verträge am 5. Mai 1955 ihre Souveränität erlangte. Genannt sei in diesem Zusammenhang vor allem das Kontrollratsgesetz Nr. 12, mit dem die Finanzbehörden der Besatzungszonen am 11. Februar 1946 zu einer progressiveren Besteuerung von Spitzenverdienern verpflichtet wurden, als es sie hierzulande je gegeben hatte. So betrug die veranlagte Einkommensteuer für Jahreseinkommen über 100.000 Reichsmark rückwirkend ab 1. Januar 1946 nicht weniger als 85.513 Reichsmark plus 95 Prozent des 100.000 Reichsmark überschreitenden Betrages. Grenz- und Spitzensteuersatz lagen für Höchsteinkommensbezieher also bei 95 Prozent, und auch ihr Durchschnittssteuersatz war nur unwesentlich geringer. Spitzeneinkommen belastete die Bundesrepublik im Gründungsstadium damit gezwungenermaßen so hoch wie die USA in der Tradition des New Deals von Präsident Franklin Delano Roosevelt.

Laut Art. IV Abs. 1 des Kontrollratsgesetzes Nr. 12 betrug die Körperschaftsteuer ab 500.000 Reichsmark 65 Prozent. Aufsichtsratsvergütungen unterlagen nach Art. VII Abs. 2 der Einkommensteuer gleichfalls diesem hohen Satz. Demselben Ziel folgte das Kontrollratsgesetz Nr. 13 vom 11. Februar 1946, mit dem die Vermögensteuer-Freibeträge für natürliche Personen auf 10.000 Reichsmark für den Steuerpflichtigen selbst beschränkt, andere Freibeträge abgeschafft und die Vermögensteuersätze für natürliche Personen auf 1,5 bzw. 2,5 Prozent erhöht wurden, wenn das steuerpflichtige Gesamtvermögen 50.000 bzw. 500.000 Reichsmark überstieg.

In den nächsten Jahren arbeiteten die CDU/CSU-geführten Regierungen unter Bundeskanzler Konrad Adenauer mit Hochdruck an Steuersatzsenkungen und – wenn sie gegen die von den Alliierten auf der Grundlage des Besatzungsstatuts vom 10. April 1949 eingesetzte, mit bestimmten Kontrollrechten ausgestattete Kommission nicht durchsetzbar waren – Steuervergünstigungen für Spitzenverdiener und Unternehmen. Zunächst wurde die Bemessungsgrundlage „verschlankt“ und später der Spitzensteuersatz im Rahmen einer „kleinen“ und einer „großen“ Steuerreform, die 1953 und 1955 in Kraft traten, nach unten gedrückt.

Trotz intensiver Bemühungen der bürgerlichen Regierungsparteien, die Steuerbelastung von Wohlhabenden und Reichen zu senken, betrug die Einkommensteuer ab einem zu versteuernden Jahreseinkommen von 250.001 DM zu Beginn der 1950er-Jahre immer noch 186.215 DM plus 95 Pfennig auf jede weitere D-Mark. Einkommensmillionäre zahlten damals also nicht weniger als 898.715 DM Einkommensteuer, was knapp 90 Prozent entsprach. Bei noch höheren Einkommen näherte sich der Durchschnittssteuersatz immer mehr 95 Prozent.

1953 sank der Spitzensteuersatz der Einkommensteuer von 95 auf 80 Prozent. Auch nach der im darauffolgenden Jahr beschlossenen Großen Steuerreform behielt das westdeutsche Steuersystem seinen ausgesprochen progressiven Charakter. Dieser verhinderte nicht, dass es bald darauf zum sog. Wirtschaftswunder kam, obwohl heute so getan wird, als bräche der „Standort D“ unter der sehr viel niedrigeren Steuerlast zusammen.

Am 1. Januar 1958 wurde das besonders männliche Gutverdiener in einer „Hausfrauenehe“ begünstigende Ehegattensplitting eingeführt und der Einkommenspitzensteuersatz auf 53 Prozent gesenkt. Die sozial-liberale Koalition unter Bundeskanzler Willy Brandt hob diesen zum 1. Januar 1975 wieder leicht auf 56 Prozent an, wo er bis zum Kanzlerwechsel von Helmut Schmidt zu Helmut Kohl verharrte. Kaum hatten der neue Bundeskanzler und seine Minister am 4. Oktober 1982 unter dem Motto „Leistung muss sich wieder lohnen!“ ihre Ämter angetreten und sie in der vorgezogenen Bundestagswahl am 6. März 1983 verteidigt, senkten CDU, CSU und FDP die Vermögensteuer, später auch die (damals noch 56 Prozent auf einbehaltene Gewinne betragende) Körperschaftsteuer und den ebenso hohen Einkommensteuerspitzensatz.

Seither folgt die Steuerpolitik aller Bundesregierungen dem Matthäus-Prinzip, heißt es doch in dem Buch dieses Evangelisten sinngemäß: Wer hat, dem wird gegeben, und wer nicht viel hat, dem wird auch das noch genommen. Während man alle Besitz-, Kapital- und Gewinnsteuern, die es hierzulande gab, in den vergangenen Jahrzehnten entweder wie die Börsenumsatz- und die Gewerbekapitalsteuer abgeschafft, wie die Vermögensteuer einfach nicht mehr erhoben, wie die Erbschaftsteuer durch Firmenerben privilegierende Sonderregelungen nach und nach „aufgeweicht“ oder wie die Einkommen-, die Kapitalertrag- und die Körperschaftsteuer durch Senkungen des jeweiligen (Spitzen-)Steuersatzes ihrer redistributiven Wirksamkeit beraubt hat, wurde die Arme und Geringverdienende am härtesten treffende Steuerart, die zum 1. Januar 1968 als Umsatzsteuer mit Vorsteuerabzug und einem Normalsteuersatz von 10 Prozent eingeführte Mehrwertsteuer, wiederholt angehoben. Statt der verfassungsrechtlich gebotenen Armutsbekämpfung betrieben die etablierten Parteien systematisch Reichtumsförderung, was sich vor allem für Spitzenverdiener, Firmenbesitzer, Kapitaleigner, Finanzinvestoren und Hochvermögende auszahlte. Diese mussten ihr Geld also gar nicht in ferne Steueroasen transferieren, um es vor dem Zugriff des Fiskus zu bewahren.

Nach der Vereinigung von BRD und DDR bürdete die liberal-konservative Bundestagsmehrheit den Sozialkassen versicherungsfremde Leistungen in einer dreistelligen Milliardenhöhe auf. Hierdurch vermied sie – mit Ausnahme einer zweimaligen Erhöhung der Mineralöl- und der Versicherungsteuer sowie einer Anhebung der Erdgas-, der Tabak- und der Mehrwertsteuer – Steuererhöhungen für den „Aufbau Ost“, die Helmut Kohl als „Kanzler der Einheit“ rigoros ausgeschlossen hatte. Abgesehen vom Solidaritätszuschlag, der als Ergänzungsabgabe auf die Lohn-, Einkommen- und Körperschaftsteuer erhoben wurde, handelte es sich ausschließlich um indirekte, Verbrauch- bzw. Massensteuern, die sozial Benachteiligte härter trafen als materiell Privilegierte.

Weil das Bundesverfassungsgericht in einem Urteil vom 22. Juni 1995 (Az.: 2 BvL 37/91) jene Bestimmungen des Vermögensteuerrechts für mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärt hatte, die insbesondere Grundvermögen steuerlich geringer belasteten als das sonstige Vermögen, war der Gesetzgeber verpflichtet, spätestens bis zum 31. Dezember 1996 eine Neuregelung zu treffen. Der von Paul Kirchhof, einem der damaligen Verfassungsrichter in dem Karlsruher Richterspruch ohne ersichtlichen Grund verankerte „Halbteilungsgrundsatz“ bot für die liberal-konservative Bundesregierung jedoch einen willkommenen Aufhänger, die Vermögensteuer stattdessen ab dem Veranlagungsjahr 1997 gar nicht mehr zu erheben.

Die schwarz-gelben Koalitionen sorgten in den 1990er-Jahren mit ihrer Steuerpolitik dafür, dass sich die Einkommensverteilung zulasten der Arbeitnehmer/innen und ihrer Familien verschob, wohingegen massiv begünstigt wurde, wer Einkünfte aus Unternehmertätigkeit und Vermögen erzielte. Während die Gewinne der Unternehmen stiegen und die Vermögen ihrer Eigentümer bzw. Aktionäre wuchsen, wurden die Besitz-, Kapital- und Gewinnsteuern gesenkt. Genannt sei in diesem Kontext vor allem die Aussetzung der Vermögensteuer ab 1. Januar 1997, von einer Vielzahl von Sonderabschreibungsregelungen für Investoren in den neuen Bundesländern ganz zu schweigen. Zudem wurde das sog. Dienstmädchenprivileg, als Sonderausgabenabzug im Einkommensteuerrecht verankert, ausgebaut. Besserverdienende konnten nunmehr die Bezahlung von Haushaltshilfen steuerlich absetzen, und zwar unabhängig davon, ob Kinder zu betreuen oder pflegebedürftige Angehörige zu versorgen waren.

Hatte die SPD/FDP-Koalition mit der Kindergeldreform 1975 die steuerlichen Freibeträge abgeschafft, von denen Wohlhabende besonders profitierten, und ein Kindergeld für das erste Kind in Höhe von 50 DM eingeführt sowie das Kindergeld für ein zweites Kind auf 70 DM und für alle weiteren Kinder auf 120 DM erhöht, kehrte die liberal-konservative Bundesregierung zum dualen Familienlastenausgleich (Kombination von Kindergeld und Steuerfreibetrag) zurück. Eltern, die aufgrund ihres zu geringen Einkommens die steuerlichen Freibeträge nicht (voll) ausschöpfen konnten, gewährte man einen Kindergeldzuschlag, der jedoch niedriger als der Steuervorteil für die Besserverdienenden ausfiel. Die negativen Folgewirkungen des horizontalen Familienlastenausgleichs in verteilungspolitischer Hinsicht nahm man bewusst in Kauf. Da kein vertikaler Lastenausgleich erfolgte, der vor allem die Kinder sozial Benachteiligter ins Zentrum familienpolitischer Bemühungen gerückt hätte, fand eine Umverteilung von Unten nach Oben statt.

Als die SPD nach Stimmengewinnen bei der Bundestagswahl im September 1998 erstmals zusammen mit den Bündnisgrünen die Parlamentsmehrheit stellte, schien es für einen kurzen historischen Moment, als ob die Chance für eine verteilungspolitische Kurskorrektur bestünde. Der damalige SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine, am 27. Oktober 1998 zum Finanzminister ernannt, hatte sich erheblich mehr Kompetenzen als seine Amtsvorgänger gesichert und mit Heiner Flassbeck und Claus Noé zwei neokeynesianisch, d.h. nachfrageorientierte Ökonomen zu Staatssekretären gemacht. Bereits am 11. März 1999 erklärte Lafontaine allerdings überraschend seinen Rücktritt vom Amt des Bundesfinanzministers, was zu Kurssprüngen an den internationalen Aktienmärkten führte.

Hans Eichel, der sein Nachfolger wurde und für strenge Haushaltsdisziplin stand, leitete eine steuerpolitische Kehrtwende ein, die maßgeblich zur Verschärfung der sozialen Ungleichheit beigetragen hat. Nun ging es wieder ausschließlich um die Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit des „Wirtschaftsstandorts D“, die Stärkung seiner großen Kapitalgesellschaften und die spürbare Entlastung der Aktionäre. Wahrscheinlich hat keine Bundesregierung vor ihr bessere Verwertungsbedingungen für das Kapital, günstigere Anlagemöglichkeiten für (Groß-)Aktionäre und niedrigere Steuersätze für Unternehmer geschaffen als die rot-grüne Regierungskoalition unter Gerhard Schröder.

Kurz vor dem Jahrtausendwechsel erfreute die Börsianer ein regelrechtes Kursfeuerwerk, als die Entscheidung der Bundesregierung zur Auflösung der „Deutschland AG“ bekannt wurde. Die später wenigstens partiell wieder rückgängig gemachte Steuerbefreiung der Erlöse aus dem Verkauf inländischer Kapitalbeteiligungen und die Einführung des Halbeinkünfteverfahrens im Hinblick auf Dividenden und Kursgewinne rissen tiefe, schwer zu schließende Löcher in den Staatshaushalt. Hauptprofiteure waren die (Mit-)Eigentümer von Kapitalgesellschaften und die Großaktionäre ertragreicher Konzerne. Man reduzierte den Satz der (von diesen zu entrichtenden) Körperschaftsteuer stark, ohne die Vermögensteuer wieder zu erheben oder die Erbschaftsteuer zu erhöhen.

Hatte das Aufkommen der (von 45 bzw. 30 Prozent auf einheitlich 25 Prozent gesenkten und mit günstigeren Verrechnungsmöglichkeiten versehenen) Körperschaftsteuer im Jahr 2001 noch bei über 46 Milliarden DM gelegen, brach es im darauf folgenden Jahr völlig ein: Nunmehr musste der Staat ca. 800 Millionen DM an die Unternehmen (zurück)zahlen.

Am 1. Januar 2004 sank der Eingangssteuersatz der Einkommensteuer von 19,9 auf 16 Prozent und der Spitzensteuersatz von 48,5 auf 45 Prozent. Gleichzeitig traten zahlreiche Verschlechterungen in Kraft, die hauptsächlich Arbeitnehmer/innen trafen: So wurden der Arbeitnehmer-Pauschbetrag, die Arbeitnehmersparzulage für vermögenswirksame Leistungen, die sog. Pendlerpauschale, der Sparerfreibetrag und die Eigenheimzulage verringert. Die zur Gegenfinanzierung der Steuersenkung neben einer Ausweitung der öffentlichen Kreditaufnahme vereinbarte Privatisierung von Bundeseigentum erschloss neue Gewinnquellen für Anleger, verringerte den Handlungsspielraum des Staates aber weiter.

In der Öffentlichkeit weniger beachtete Änderungen im Tarifverlauf, vor allem die Verkürzung des Progressionsbereichs, der bei 52.152 Euro (ca. 102.000 DM) statt wie früher bei 130.000 DM (ca. 66.4680 Euro) endete, trugen gleichfalls zur Vergrößerung der sozialen Schieflage bei. Nicht bloß nominal, sondern auch prozentual wurden die Spitzenverdiener stärker entlastet als die Bezieher/innen geringerer Einkommen. Vergleichbares galt im Hinblick auf die Dividendenbesteuerung: Durch die Umstellung vom Vollanrechnungs- auf das Halbeinkünfteverfahren wurden ausgerechnet jene Anleger begünstigt, deren Einkommensteuersatz 40 Prozent überstieg, Kleinaktionäre hingegen benachteiligt. Unter dem Strich finanzierten die Mittelschichtangehörigen einen Großteil der Steuergeschenke an Spitzenverdiener und Konzerne.

Auch die sog. Ökosteuern trafen in der Form, wie die rot-grüne Koalition sie eingeführt hatte, statt der Hauptumweltverschmutzer des produzierenden Gewerbes bzw. der Großindustrie vor allem sozial Benachteiligte: Sozialhilfeempfänger/innen, Rentner/innen, Arbeitslose, Zivildienstleistende und Studierende. Während sie die Unternehmen nahezu komplett überwälzen konnten, handelte es sich für die privaten Haushalte um eine neue Verbrauchsteuer. Dabei war die relative Belastung der Bezieher/innen von Transfereinkommen, die keine Rentenversicherungsbeiträge entrichteten und daher nicht in den Genuss von deren Senkung kamen, am höchsten. Durch die Ökosteuern wurden die sog. Lohnnebenkosten (Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträge zur Rentenversicherung) gesenkt, die Wohnnebenkosten von Arbeitslosen, Rentner(inne)n, Schüler(inne)n und Studierenden, die hiervon nicht oder höchstens indirekt profitierten, aber erhöht.

Die genannten Reformen der Einkommens- und der Unternehmensbesteuerung haben zu einer weiteren Vertiefung der Kluft zwischen Arm und Reich beigetragen. Nun wurden hohe (Kapital-)Einkünfte und Unternehmensgewinne geringer als jemals zuvor nach 1945 besteuert. Mit dem privaten Reichtum, der sich aufgrund der rot-grünen Steuerpolitik noch mehr bei den finanzkräftigsten Bevölkerungsgruppen konzentrierte, wuchs auch die öffentliche Armut. Erst nach der Abwahl von SPD und Bündnisgrünen, im Jahr 2006, wurden die fünf Jahre zuvor beginnenden Einnahmeausfälle des Staates ausgeglichen und erreichten die Steuereinnahmen wieder das frühere Niveau.

Durch eine schrittweise Verlagerung von den direkten zu indirekten bzw. Verbrauchsteuern wollte man den „Standort D“ attraktiver machen und mehr ausländische Investoren anlocken. Damit entschied nicht mehr ausschließlich die finanzielle Leistungsfähigkeit über die Steuerlast der Bürger/innen, sondern ihr Bedarf an Konsumgütern, welcher etwa bei kinderreichen Familien ohne hohes Einkommen relativ groß ist. Außerdem spielte das Argument der Unüberschaubarkeit des komplizierten Steuersystems im öffentlichen Diskurs eine wichtige Rolle. Friedrich Merz, damals stellvertretender Vorsitzender der Unionsfraktion im Bundestag, knüpfte daran seinen Plan für eine radikale Vereinfachung der Einkommensteuer, die – auf drei Tarifstufen (12, 24 und 36 Prozent) komprimiert – eine Berechnung der Steuerschuld für die meisten Bürger/innen „auf einem Bierdeckel“ ermöglichen sollte.

Bodo Hombach, seinerzeit Kanzleramtsminister, später Balkan-Beauftragter der EU und WAZ-Manager, ging noch weiter, als er in seinem Buch „Aufbruch“ den Einheitssteuersatz nach Vorbild der US-amerikanischen Flat Tax von 20,5 Prozent nannte. Dieser sollte gleichermaßen für Krankenschwestern wie Konzernvorstände, Hausmeister wie Topmanager und Müllwerker wie Multimilliardäre gelten. Konsequent zu Ende gedacht, erfordert wahre Steuergerechtigkeit nach der neoliberalen Logik denselben Zahlbetrag für alle Bürger/innen, ganz unabhängig von ihrem jeweiligen Einkommen.

Franz Müntefering suchte die seiner SPD bei der nordrhein-westfälischen Landtagswahl am 22. Mai 2005 drohende Niederlage als Parteivorsitzender durch öffentliches Klagen über ausländische Finanzinvestoren einzudämmen, die wie „Heuschreckenschwärme“ über deutsche Unternehmen herfielen. Dabei hatten sozialdemokratische Politiker durch die Kapitalgesellschaften im Rahmen der rot-grünen Unternehmensteuerreform 2001 für Veräußerungsgewinne gewährte Steuerfreiheit und das Investmentmodernisierungsgesetz, welches erstmals Hedgefonds auch in der Bundesrepublik zuließ, den nunmehr kritisierten Handlungsspielraum für solche Spekulanten erweitert bzw. überhaupt erst geschaffen.

Die im November 2005 gebildete erste Große Koalition unter der Bundeskanzlerin Angela Merkel setzte die Steuerpolitik nach dem Matthäus-Prinzip fort: Während sie den Höchstsatz der Mehrwertsteuer, also der Steuerart, welche Arme am härtesten trifft, weil diese ihr gesamtes Einkommen verausgaben (müssen) und dabei genauso hoch besteuert werden wie Wohlhabende, Reiche und Hyperreiche, zum 1. Januar 2007 von 16 auf 19 Prozent erhöhte, senkte sie die Körperschaftsteuer für Kapitalgesellschaften, die am Ende der Kanzlerschaft von Helmut Kohl noch 45 bzw. 30 Prozent für einbehaltene bzw. ausgeschüttete Gewinne (statt 56 bzw. 36 Prozent zu Beginn seiner Amtszeit) betragen hatte, zum 1. Januar 2008 auf 15 Prozent.

Der damalige Bundesfinanzminister Peer Steinbrück führte eine Abgeltungsteuer auf Kapitalerträge ein, die er mit dem flotten Spruch „25 Prozent Steuern auf einen Betrag von x sind besser als 42 Prozent auf gar nix“ (wegen der Anlage- und Steuervermeidungsmöglichmöglichkeiten im Ausland) begründete. Später stellte sich heraus, dass es für den Staat fortan 25 Prozent auf fast gar nix gab, denn natürlich holten die reichen Anleger ihr Kapital nicht wie erhofft reumütig aus „Steueroasen“ wie Luxemburg, mittelamerikanischen Bananenrepubliken oder den britischen Kanalinseln zurück nach Deutschland.

Nach der von Steinbrück initiierten Gesetzesänderung entrichteten auch die gesetzestreuen Kapitalanleger erheblich weniger Steuern als vorher, was sie für den Staat trotz der vollmundigen Ankündigung des Bundesfinanzministers zu einem milliardenschweren Verlustgeschäft machte. Dividenden, die bisher dem sog. Halbeinkünfteverfahren unterlagen, mussten ab 1. Januar 2009 voll und Kursgewinne aus Aktien- und Fondsanteilskäufen erstmals ohne Rücksicht auf eine (zuletzt zwölf Monate betragende) Spekulationsfrist versteuert werden. Beide unterlagen fortan aber genauso wie Zinsen einer Abgeltungsteuer, die pauschal 25 Prozent beträgt und die Steuerprogression im Einkommensteuerrecht somit unterläuft. Davon profitierten hauptsächlich jene sehr wohlhabenden Einkommensbezieher, die den Spitzensteuersatz in Höhe von 42 bzw. 45 Prozent (sog. Reichensteuer) entrichten müssen, während sich Kleinaktionäre, die mittels entsprechender Wertpapiere privat für das Alter vorsorgen wollen, aufgrund ihres niedrigeren Steuersatzes nunmehr eher schlechter als vorher standen.

Die duale Einkommensteuer führte dazu, dass Kapitalerträge nunmehr geringer besteuert wurden als Arbeitseinkommen. Während ein Großaktionär nur 25 Prozent Abgeltungsteuer entrichtete, wurde einem Techniker, Ingenieur oder sehr gut entlohnten Facharbeiter bei zahlreichen Überstunden nunmehr vom Finanzamt im Extremfall der Spitzensteuersatz von 42 Prozent auferlegt. Da die Kapitalertragsteuer zu einer Abgeltung- bzw. Quellensteuer umgestaltet worden ist, wissen Staat und Öffentlichkeit heute außerdem weniger über die Kapitaleinkünfte seiner Höchsteinkommensbezieher, denn die Banken führen deren Steuerschuld als Pauschalbetrag ohne persönliche Veranlagung unter Wahrung der Anonymität des Steuerpflichtigen an den Fiskus ab.

Vom Autor bearbeiteter Auszug aus seinem Buch „Umverteilung des Reichtums“, das im PapyRossa Verlag erschienen ist.



* Prof. Dr. Christoph Butterwegge

Christoph Butterwegge hat bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt. 2017 kandidierte er für das Amt des Bundespräsidenten. Mit Bremen ist er auf vielfältige Weise verknüpft: 1980 Promotion zum Dr. rer.pol. in der Universität Bremen, von 1987-1989 dort auch wissenschaftlicher Mitarbeiter im Studiengang Weiterbildung. 1990 Habilitation im Fach Politikwissenschaft an der Universität Bremen, Dozententätigkeit in Bremen, 1991 bis 1994 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bremischen Stiftung für Rüstungskonversion und Friedensforschung.

Letzte Buchveröffentlichungen:

"Umverteilung des Reichtums" Papyrossa Verlag 2024
"Deutschland im Krisenmodus" Beltz Juventa 2024
"Ungleichheit in der Klassengesellschaft" (2. aktualisierte Auflage), Papyrossa Verlag
"Armut" (5. aktualisierte und erweiterte Auflage), das u.a. eine kritische Darstellung sämtlicher Armuts- und Reichtumsberichte der Bundesregierung enthält. Papyrossa Verlag
Gemeinsam mit seiner Frau Dr. Carolin Butterwegge »Kinder der Ungleichheit. Wie sich die Gesellschaft ihrer Zukunft beraubt« (Campus Verlag).

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