von Rolf Gössner*
Militarisierung und „Kriegstüchtigkeit“ werden hierzulande seit Verkündung der sicherheitspolitischen
„Zeitenwende“ nach dem russischen Angriff auf die Ukraine bekanntlich massiv forciert.
Dabei sollen auch die Köpfe der mehrheitlich noch skeptischen Bürger und Bürgerinnen erobert
werden – besonders die von Jugendlichen. „Wir müssen kriegstüchtig werden“, hat Bundesverteidigungsminister
Boris Pistorius (SPD) wiederholt gefordert und damit nicht nur die Bundeswehr
gemeint, sondern „unsere Gesellschaft“, also uns alle. Und so wird der Weg zu einer
„wehrhaften“ Gesellschaft und einem „kriegstüchtigen“ Deutschland mit großem Aufwand politisch
und ideologisch, medial und mental begleitet, unterstützt und gerechtfertigt. Erst kürzlich
hat die bayerische Staatsregierung dabei einen weiteren Etappensieg erzielt: und zwar mit einer
gesetzlich verordneten Militarisierung des staatlichen Bildungsbereichs.
Künftig werden bayerische Schulen, Hochschulen, Universitäten und Forschungseinrichtungen
bundesweit erste Bundeswehrförderungsgesetz, das der bayerische Landtag im Juli 2024 mit den
Stimmen von CSU, Freien Wählern und SPD beschlossen hat (LT-Drs. 19/1556; GVBl. Nr. 14 v.
20.07.2024, S. 257). Neben einem prinzipiell verordneten Kooperationsgebot wird auch ausdrücklich
eine Kooperationspflicht der Hochschulen vorgeschrieben, wenn dies „im Interesse der
nationalen Sicherheit erforderlich ist“.
Mit dem Gesetz soll eine "reibungslose Zusammenarbeit" mit der Bundeswehr sichergestellt
werden, außerdem ihr "ungehinderter Zugang“ zu Forschung und Entwicklung an Hochschulen,
zu wissenschaftlichem Know-how und wissenschaftlich qualifizierten Fachkräften, so die Begründung.
Im Gesetzestext heißt es wörtlich: "Erzielte Forschungsergebnisse dürfen auch für militärische
Zwecke der Bundesrepublik Deutschland oder der Nato-Bündnispartner genutzt werden"
– demnach auch solcher Nato-Staaten, die Menschen- und Völkerrecht systematisch verletzen.
Weiter heißt es im Gesetzestext: "Eine Beschränkung der Forschung auf zivile Nutzungen
(Zivilklausel) ist unzulässig". Denn, so die Begründung: Zivilklauseln seien "angesichts der bestehenden
sicherheitspolitischen Herausforderungen nicht hinnehmbar". Schließlich müsse das
Forschungs- und Wissenschaftspotential bayerischer Hochschulen „auch zugunsten militärischer
Forschung und Entwicklung" gesichert werden; und dazu gehöre auch, „Kooperationen oder
Drittmittelprojekte mit Rüstungsunternehmen oder Armeen“ einzugehen und durchzuführen.
„Zivilklauseln“ sind bekanntlich Selbstverpflichtungen wissenschaftlicher Forschungseinrichtungen,
ausschließlich für rein zivile und friedliche Zwecke zu forschen. Die grundgesetzlich
verankerte Freiheit von Lehre und Forschung lässt eine solche freiwillige Beschränkung zu.
Letztlich entstammt die zugrunde liegende Idee der Friedensbewegung der 1980er Jahre; damit
soll eine Politik der Abrüstung und Entspannung befördert werden, voll im Einklang mit dem
„Friedensgebot“ des Grundgesetzes. Die erste Zivilklausel trat 1986 an der Universität Bremen
in Kraft. Heute haben sie etwa 70 bundesdeutsche Universitäten und Hochschulen eingeführt –
bislang jedoch keine bayerischen, denen dies nun für die Zukunft kategorisch verboten wird.
Auch alle Schulen in Bayern sind von dem Gesetz betroffen: Sie sollen von nun an im Rahmen
der politischen Bildung zu "Fragen der Sicherheits- und Verteidigungspolitik" eng mit "Jugendoffizieren"
und auch mit "Karriereberatern“ der Bundeswehr zusammenarbeiten – letztere im
Rahmen schulischer Veranstaltungen zur "beruflichen Orientierung über Berufs- und Einsatzmöglichkeiten"
bei der Bundeswehr. Früher konnten Schulen und Lehrkräfte prinzipiell eigenverantwortlich
entscheiden, ob und wie sie die Bundeswehr in den Sozialkundeunterricht einbinden.
Allerdings referieren Jugendoffiziere der Bundeswehr bereits seit 1958 bundesweit vermehrt
im Bildungsbereich über Sicherheitspolitik und Streitkräfte, häufig verbunden mit Truppenbesuchen.
Seit 2008 sind Kooperationsvereinbarungen zwischen Bundeswehr und etlichen
Bildungsministerien der Bundesländer geschlossen worden, die solche Bundeswehr-Besuche in
Schulen verbindlich regeln. Unter Protest der Gewerkschaft Bildung und Wissenschaft (GEW),
die den damit verbundenen zunehmenden Einfluss der Bundeswehr auf die inhaltliche Gestaltung
des Unterrichts und der Lehreraus- und Fortbildung kritisiert. Politische Bildung gehöre „in
die Hand der dafür ausgebildeten zivilen pädagogischen Fachleute“ und nicht in die von Jugendoffizieren.
Schließlich gelte für Schulen das Gebot der Neutralität. Auch die Deutsche Friedensgesellschaft
(DFG-VK) sowie die Deutsche Sektion der Internationalen Ärzt*innen für die Verhütung
des Atomkrieges / Ärzt*innen in sozialer Verantwortung e.V. (IPPNW) halten die Öffnung
des Schulunterrichts für Programme der Bundeswehr für unvereinbar mit einer Erziehung
zu Frieden, gewaltfreier Konfliktlösung und Völkerverständigung.
Tatsächlich ist die Bundeswehr weder verfassungsrechtlich noch nach den Bildungsgesetzen für
politische Bildungsarbeit in Schulen legitimiert. Doch laut einem Gutachten der Wissenschaftlichen
Dienste des Bundestages („Bundeswehr im Schulunterricht“, WD 3-09/10, 2010) sollen Informationen
durch und über die Bundeswehr im Pflichtteil des Schulunterrichts verfassungsrechtlich
grundsätzlich zulässig sein, weil „die Streitkräfte Teil des Staates und verfassungsrechtlich
verankert sind“. Jugendoffiziere dürften aber nur auf Einladung der Schulen am Unterricht
mitwirken und die Leitung der Informationsveranstaltung muss bei der Schule verbleiben. Je
umstrittener die Inhalte in der Öffentlichkeit seien, desto eher müsse die Schule auf Ausgewogenheit
achten und Gegenpositionen einbinden, wie etwa durch Vertreter oder Organisationen
der Friedensbewegung (was häufig jedoch nicht passiert). Wegen der Verpflichtung zu Neutralität
und Toleranz dürfe es eine gezielte Beeinflussung der Schüler in eine bestimmte Richtung
nicht geben (Indoktrinierungsverbot). Das gilt insbesondere auch hinsichtlich aktueller Kriegseinsätze
bzw. militärischer Interventionen. Kontrovers debattierte gesellschaftliche Themen
müssen kontrovers dargestellt und diskutiert werden. Und ein Werbeeffekt für Militärdienst, also
den Dienst an der Waffe, muss von vornherein verhindert werden - obwohl mit dem schulischen
Einsatz von Jugendoffizieren ein solcher Effekt zumindest latent verbunden sein kann.
Mit dem neuen Bundeswehrförderungsgesetz werden solche begrenzenden Vorgaben praktisch
obsolet, wird die Kooperation von bayrischen Schulen mit der Bundeswehr praktisch zum
Zwang. Dies kann die Gewissensfreiheit von Schülern und Schulerinnen beeinträchtigen, wenn
sie einseitig beeinflusst werden. Und es verstärkt, neben der damit verbundenen mentalen Militarisierung,
einen bedenklichen Trend: Denn die Bundeswehr hat bereits in den letzten fünf Jahren
bundesweit etwa 8.000 Minderjährige rekrutiert und an Waffen ausgebildet (mit Einverständnis
der Erziehungsberechtigten); und dies mit zuletzt steigender Tendenz: allein 2023 waren es
knapp 2.000, ein Rekordwert (taz 26.07.2024), und in Bayern sind fast 14 Prozent der Rekrutierten
derartige Kindersoldaten. Und dies, obwohl der UN-Kinderrechtsausschuss ein Rekrutierungsalter
von über 18 Jahren, also Volljährigkeit, fordert. Auch im Koalitionsvertrag der Ampel
steht, dass „Ausbildung und Dienst an der Waffe … volljährigen Soldatinnen und Soldaten vorbehalten“
bleiben. Doch eine Umkehr ist bislang nicht in Sicht. Und so werden auch weiterhin
Minderjährige, die sich durch Technik und Waffen, durch klare Ordnung, Kameradschaft und
Abenteuer anfixen lassen, „kriegstüchtig“ gemacht – ganz besonders in Bayern.
Zum Sinn des Bundeswehrförderungsgesetzes heißt es in der Begründung: „Aufgabe des Staates"
sei es, „unsere Gesellschaft auf die grundlegend veränderte sicherheitspolitische Lage vorzubereiten",
die Auswirkungen auf fast alle Lebensbereiche habe. Auch der Freistaat müsse "im
Rahmen seiner (Regelungs-) Kompetenzen dazu beitragen, die Bundeswehr zu stärken, die
Rahmenbedingungen für die Erfüllung der Aufgaben der Bundeswehr … bestmöglich auszugestalten
sowie den Rückhalt in der Bevölkerung für unsere Soldatinnen und Soldaten zu festigen".
Dies ist jedoch keine bayerische Spezialität, sondern passt zum bundesweit staatlichen Bemühen,
die Bundeswehr umfassend gesellschaftsfähig und uns alle "kriegstüchtig" zu machen, was sehr
viel mehr meint als grundgesetzkonforme Verteidigungsfähigkeit. Und tatsächlich gibt es längst
Pläne des Bundesbildungsministeriums, das Militär bundesweit in Schulen noch intensiver informieren
und werben zu lassen, um „ein unverkrampftes Verhältnis zur Bundeswehr“ zu entwickeln
und Schüler „auf den Kriegsfall vorzubereiten“; und Hochschulen sollen nicht nur in Bayern,
sondern bundesweit künftig stärker für Militär- und Rüstungsforschung geöffnet und dienstbar
gemacht werden. Bayern bildet mit seinem Bundeswehrförderungsgesetz also die Vorhut,
womöglich als Blaupause für die ganze Bundesrepublik.
Angesichts solcher Entwicklungen und Gefahren ist es gerade vor dem Hintergrund deutscher
Geschichte mehr als angemessen, dass sich hiergegen organisierter Widerspruch regt: Und so
warnten etwa DFG-VK, Gewerkschaften, Schul- und Hochschul-Angehörige und zahlreiche Personen
des öffentlichen Lebens bereits im Vorfeld vor einer Verabschiedung des Gesetzes und
kündigten eine verfassungsrechtliche Überprüfung an. Mehr als 1.500 Personen – darunter der
Arbeitsrechtler Wolfgang Däubler, die Theologin Margot Käßmann, der ehemalige IG Metall-
Chef Jürgen Peters und der Liedermacher Konstantin Wecker – unterzeichneten eine Petition gegen
das Gesetz, weil sie eine weitgehende „Militarisierung des Bildungs- und Forschungsbereichs“
befürchten – mit bundesweiter Ausstrahlung. Das Gesetz greife „unverhältnismäßig in
die Autonomie der Hochschulen und damit in die Forschungs- und Wissenschaftsfreiheit ein"
und verstoße zudem gegen Neutralitätsgebot und Gewissensfreiheit an Schulen.
Aus all diesen Gründen muss der bayerische Verfassungsgerichtshof schnellstmöglich mit der
verfassungsrechtlichen Überprüfung dieses Militärförderungsgesetzes und seiner mutmaßlich fatalen
Auswirkungen befasst werden. Und die hoffentlich bald wieder gestärkte Friedensbewegung
wird sich zusammen mit Gewerkschaften, Angehörigen des Bildungs- und Forschungswesens,
Studenten, Schülern und Eltern dieser verhängnisvollen Angelegenheit und der zunehmenden
gesellschaftlichen Militarisierung weiterhin mit Nachdruck annehmen und sich entschieden
widersetzen müssen.
Hinweis: Der Autor ist Mitunterzeichner der Petition gegen das bayerische Bundeswehrförderungsgesetz;
er wird deshalb auch eine baldige verfassungsgerichtliche Überprüfung unterstützen.
Quellen/Links (Auswahl):
• Schulen und Wissenschaft müssen kooperieren. Bayern beschließt Bundeswehrgesetz:
https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/bayern-bundeswehr-zivilklausel-kooperation-hochschulen-wissenschaftsfreiheit
• Kritiker von Bayerns Bundeswehrgesetz drohen mit Klage: https://www.sueddeutsche.de/bayern/bayern-bundeswehrgesetz-
kritik-klage-lux.Tw2GeZXiz48UQgZFsMHgSo
• Über 1.500 Personen unterstützen Petition gegen bayerisches Bundeswehrgesetz / Widerspruch gegen Gesetzesentwurf
zur Militarisierung des Bildungsbereichs in Bayern: https://www.gew-bayern.de/themen/nein-zumbundeswehrgesetz
https://www.gew-bayern.de/aktuelles/detailseite/zum-gesetzentwurf-zur-foerderung-derbundeswehr-
in-bayern
https://www.gew-bayern.de/presse/detailseite/widerspruch-gegen-gesetzesentwurf-zurmilitarisierung-
des-bildungsbereichs
Der Beitrag erschien bereits in "Ossietzky", Zweiwochenschrift für Politik/Kultur/Wirtschaft Nr. 17-2024 v. 24.08.2024
Über den Autor:
Dr. Rolf Gössner ist Publizist und Jurist, Kuratoriumsmitglied der Internationalen Liga für Menschenrechte sowie
Mitherausgeber des jährlichen "Grundrechte-Report. Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland"
und der Zweiwochenschrift für Politik/Kultur/Wirtschaft „Ossietzky“. Autor zahlreicher Bücher zu Demokratie, Innerer
Sicherheit und Bürgerrechten, zuletzt: „Datenkraken im öffentlichen Dienst. ‚Laudatio’ auf den präventiven
Sicherheits- und Überwachungsstaat“, Köln 2021. Mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Hans-Litten-Preis der
Vereinigung Demokratischer Jurist:innen (VDJ). Internet: www.rolf-goessner.de Rolf Gössner lebt in Bremen.
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Kaum ein Bundesland hat prozentual so viele Niedriglöhner, Langzeitarbeitslose und Hartz-IV-Bezieher wie Bremen. Die Corona-Maßnahmen der Bundes- und Landesregierung haben das dramatisch verschlimmert. In einigen Ortsteilen leben über 50% aller Kinder in Familien mit Hartz IV-Bezug. Auch die seit 2019 regierende SPD/Grüne/Linke Regierungskoalition hat den Trend nicht aufgehalten. Die Zahl der registrierten Langzeitarbeitslosen in SGB II und III Bezug in Stadt Bremen stieg von April 2020 bis April 2021 um 30,3 Prozent. Die Zahl der Arbeitslosen Hartz-IV-Bezieher stieg um 8,2 % im gleichen Zeitraum. Und gleichzeitig steigen die Mieten und verschlingen für viele bereits 40% oder noch mehr ihres Einkommens.
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Im folgenden Auszüge aus dem Buch (mit freundlicher Genehmigung des Westendverlags) von Daniela Dahn und Rainer Mausfeld.
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