von Rolf Gössner*
Der Tod des bundesweit bekannten Anwalts „der kleinen Leute und verfemten Minderheiten“,
Heinrich Hannover, weckt in mir starke Erinnerungen an berufliche und persönliche Begegnungen
sowie an gemeinsame Projekte. Ende der 1970er Jahre habe ich Heinrich Hannover kennenund
schätzen gelernt. Sein Ruf als unerschrockener Strafverteidiger und als Bremer Anwalt von
Kriegsdienstverweigerern, Kommunist:innen und widerständigen Menschen eilte ihm voraus.
Aber auch sein »Ruf« als »Terroristen-Anwalt«, der ihm von seinen politischen Gegnern verpasst
worden ist.
Ich war Ende der 70er Jahre gerade nach Bremen gekommen und absolvierte in der Hansestadt
meine Ausbildung als Gerichtsreferendar. Für die Anwaltsstation bewarb ich mich in der
Hannover-Kanzlei, wo ich tatsächlich aufgenommen wurde. Beschäftigt war ich schwerpunktmäßig
mit Anerkennungsverfahren von Kriegsdienstverweigerern. Dabei lernte ich Juristerei
kennen, die pazifistisch ausgerichtet ist und die so zu einem wesentlichen Bestandteil meiner
Ausbildung wurde. Hannovers Kanzlei leistete in jener Zeit mit diesen Verfahren wichtige Pionierarbeit.
Wobei sein Engagement aus leidvollen Erfahrungen entsprang: Der Zweite Weltkrieg,
an dem er im jugendlichen Alter von 17 Jahren als Soldat teilgenommen hatte, ließ ihn aus
diesem Krieg als Pazifist und Antimilitarist zurückkehren, was er zeitlebens geblieben ist. Nicht
ohne Genugtuung resümierte er später, seine weitgehend erfolgreiche juristische Unterstützung
von Kriegsdienstverweigerern habe »die Bundeswehr sicher eine kleine Kanone gekostet«.
Nach dem zweiten juristischen Staatsexamen und gleich zu Beginn meiner Berufstätigkeiten
als Anwalt und Publizist Anfang der 1980er Jahre geriet ich unmittelbar in eine gewalttätige Auseinandersetzung
mit der Polizei. Bei meiner juristischen Gegenwehr stand mir Heinrich Hannover
anwaltlich zur Seite. Was war passiert? Am 6. Mai 1980 hatte Bremen den Protest von
15.000 Menschen gegen ein öffentliches Rekrutengelöbnis der Bundeswehr im Weser-Stadion
erlebt – ein militanter Protest gegen Militarisierungstendenzen, der als »Bremer Krawalle« in die
Geschichte der Stadt einging. Gewaltsame Auseinandersetzungen mit vielen Verletzten, Steine
flogen auf Polizeibeamte, Bundeswehrfahrzeuge gingen in Flammen auf – und ich war mittendrin:
nicht als Demonstrant, sondern als Journalist in meiner damaligen Funktion als Bremer
Redakteur der Tageszeitung (taz).
Ausgestattet mit einem offen getragenen Presse-Sonderausweis der Panzergrenadierbrigade 32
ging ich an jenem Tag auch im Weser-Stadion meiner Arbeit nach. Doch es dauerte nicht lange,
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da umringten mich drei mausgraue Bundeswehr-Feldjäger und ein Zivilpolizist und ermahnten
mich eindringlich. Mein Vergehen: Ich hatte die Falschen fotografiert – nicht Demonstranten, die
Steine auf mit Helmen und Plastikschilden geschützte Polizisten warfen, sondern Polizisten, die
innerhalb des Stadions die Steine aufgriffen und sie in die ungeschützte Menschenmenge zurückschleuderten.
Nachdem ich trotz der Ermahnung auf Pressefreiheit und Beweissicherung pochte
und weiter fotografierte, stürzten sich Feldjäger unter »So, jetzt reicht’s«-Rufen auf mich, führten
mich im Armdrehgriff an einem Spalier gewaltbereiter Feldjäger vorbei, stießen mich die Treppe
hinab und übergaben mich der Polizei.
Nun hoffte ich auf bessere Behandlung, doch jetzt ging’s erst richtig los: Die Beamten hatten
ein Spalier gebildet, um mit mir – wie auch mit vielen anderen – eine Art Spießrutenlauf zu veranstalten:
Ich wurde durch die Reihen gejagt, mit Tritten und Schlagstöcken traktiert und an den
damals noch recht langen Haaren gezogen. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis ich am Ende des
Spaliers liegen blieb und Demonstranten mich in Sicherheit brachten.
Diese Polizeigewalt im Weser-Stadion beschäftigte, dank Heinrich Hannovers juristischer und
rechtspolitischer Intervention, Presserat, Staatsanwaltschaft und Politik. Auch andere 6.-Mai-Geschädigte
vertrat er gegen ungezügelte Staatsgewalt – allerdings leider ohne juristische Erfolge,
denn die gewalttätigen Polizisten in Uniform und unter Helmen konnten nicht namhaft gemacht
werden, so dass letztlich niemand zur Verantwortung gezogen werden konnte. Ein altes, bis heute
nicht wirklich gelöstes Problem mangelnder Kontrolle von Polizei und Polizeihandeln.
Meine nächsten Begegnungen mit Heinrich Hannover führten ab Mitte der 1980er Jahre zu
einem gemeinsamen Projekt: dem Forschungsvorhaben »Terroristen und Richter« am Hamburger
Institut für Sozialforschung. Als wissenschaftliche Mitarbeiter hatte er dafür die Journalistin und
Sozialwissenschaftlerin Margot Overath und mich ausgesucht. Mit diesem Projekt sollte ein
hochproblematisches Kapitel bundesdeutscher Rechtsentwicklung aus unterschiedlichen Blickwinkeln
aufgearbeitet werden. Es ging im Kern um die seinerzeit bereits zwei Jahrzehnte währende
»Terrorismusbekämpfung« und um die Frage, wie diese Entwicklung die Bundesrepublik,
ihre parlamentarische Demokratie und den Rechtsstaat veränderte. Wir suchten Antworten auf
die Frage, wie der Staat, wie die Staatsgewalten Legislative, Exekutive und Judikative mit der
Bedrohung durch die »Rote Armee Fraktion« (RAF) umgehen – und wie mit ihren Protagonisten
bis hin zu den angeblichen »Sympathisanten«.
Aus diesem mehrjährigen Forschungsprojekt ist 1991 ein dreibändiges Werk hervorgegangen,
das im VSA-Verlag Hamburg erschienen ist: Im ersten Band »Terroristenprozesse. Erfahrungen
und Erkenntnisse eines Strafverteidigers« rechnet Heinrich Hannover mit der Politischen Justiz
der Bundesrepublik ab, der er seit den 1950er Jahren mehr als drei Jahrzehnte lang Gerechtigkeit
abzutrotzen versuchte. Die zentrale These seiner Arbeit, nach der es im politischen Prozess nicht
in erster Linie um Wahrheitsfindung gehe, sondern vielmehr um Feindbekämpfung, entwickelte
der Autor aus der Perspektive des teilnehmenden und damit auch betroffenen Beobachters, der er
in seiner Funktion als politisch bewusster Strafverteidiger in solcherart Strafverfahren war.
Im zweiten Band »Das Anti-Terror-System. Politische Justiz im präventiven Sicherheitsstaat«
untersuchte ich die Entwicklung des polizeilich-geheimdienstlich-justiziellen Terrorismus-Sonderrechtssystems,
das sich inzwischen entwickelt hatte, und seine gesellschaftlichen Funktionen
und Auswirkungen. Auswirkungen, die nach und nach die gesamte linksorientierte Opposition bis
hinein in die neuen sozial- und umweltpolitischen Bewegungen (der 80er Jahre) infiltrierten und
die demokratisch-rechtsstaatliche Verfasstheit der Republik mehr und mehr aushöhlten.
Im dritten Band »Drachenzähne. Gespräche, Dokumente und Recherchen aus der Wirklichkeit
der Hochsicherheitsjustiz« von Margot Overath geht es um die am eigenen Leib der unmittelbar
Betroffenen erfahrene und erlittene Wirklichkeit der Politischen Justiz in Zeiten des Terrors und
der »Terrorbekämpfung«. Dieser Band ist mit aktiver Unterstützung von Betroffenen zustande
gekommen, von Angeklagten, Verurteilten und deren Verteidigern. Dabei geht es auch – am
Beispiel einzelner Gerichtsverfahren – um die zahlreichen verschärften Sonderbedingungen, die
»Terroristenprozesse« auszeichnen und die rechtsstaatliche Prinzipien streckenweise infrage
stellen.
Das dreibändige Werk liefert insgesamt Antworten auf die Fragen, welche Auswirkungen und
Folgen die verschärfenden Rechtsänderungen und Aufrüstungsmaßnahmen haben, die im Zuge
der damaligen Terrorismus »Terroristenbekämpfung« vorgenommen und vollzogen wurden –
und die seitdem, besonders seit 9/11, mit mehreren »Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetzen
« noch ausgeweitet und weiter verschärft worden sind (zur weiteren Entwicklung: Gössner,
»Menschenrechte in Zeiten des Terrors. Kollateralschäden an der ‚Heimatfront’«, Hamburg 2007,
sowie »Datenkraken im Öffentlichen Dienst. ‚Laudatio’ auf den präventiven Sicherheits- und
Überwachungsstaat«, Köln 2021). Die Auswirkungen haben den demokratischen Rechtsstaat und
die politische Kultur in diesem Land jedenfalls in erheblichem Maße negativ beeinflusst – bis in
die heutige Zeit.
Heinrich Hannovers Verdienst war es u.a., solche bürgerrechtsgefährdenden Entwicklungen
engagiert und kritisch aufgearbeitet, angeprangert und auf notwendige Änderungen gedrängt zu
haben. Er hat damit das Bewusstsein vieler Zeitgenossen für staatliche Willkür und ungerechte
Zustände im Rechtssystem geschärft. Nun ist Heinrich Hannover tot. Er starb am 14. Januar 2023
im hohen Alter von 97 Jahren in Worpswede. Auch künftigen Generationen von Juristen, Anwältinnen
und Strafverteidigern kann und sollte sein jahrzehntelanges humanistisch-demokratisches,
friedenspolitisches und aufklärendes Wirken als Vorbild dienen.
Teil II der Erinnerungen von Rolf Gössner an Heinrich Hannover beschäftigt sich mit den langjährigen rechtspolitischen Bemühungen der beiden , die Justizopfer des
Kalten Kriegs Westdeutschlands endlich zu rehabilitieren und zu entschädigen.
Im Text erwähnte Literatur
Heinrich Hannover: Terroristenprozesse. Erfahrungen und Erkenntnisse eines Strafverteidigers, Hamburg 1991 (Band 1)
Rolf Gössner: Das Anti-Terror-System. Politische Justiz im präventiven Sicherheitsstaat, Hamburg 1991 (Band 2)
Margot Overath: Drachenzähne. Gespräche, Dokumente und Recherchen aus der Wirklichkeit der Hochsicherheitsjustiz,
Hamburg 1991 (Band 3)
Rolf Gössner: Menschenrechte in Zeiten des Terrors. Kollateralschäden an der ‚Heimatfront’, Hamburg 2007
Ders.: Datenkraken im Öffentlichen Dienst. ‚Laudatio’ auf den präventiven Sicherheits- und Überwachungsstaat«, Köln 2021
Der Beitrag erschien bereits in "Ossietzky", Zweiwochenschrift für Politik/Kultur/Wirtschaft Nr. 1-2023
Über den Autor:
Rolf Gössner, Dr. iur., *1948, Jurist und Autor zahlreicher Publikationen zum Themenspektrum Innere Sicherheit, Bürgerrechte und demokratischer Rechtsstaat. Kuratoriumsmitglied der Internationalen Liga für Menschenrechte, Mitherausgeber des Grundrechte-Reports und der Zweiwochenschrift für Politik / Wirtschaft /Kultur Ossietzky sowie von 2000 bis 2020 Mitglied der Jury zur Verleihung des Negativpreises BigBrotherAward. Rolf Gössner lebt in Bremen.
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