von Bernd Hontschik*
25.10.2021
Unfallforscher, Autoversicherer und der ADAC monieren
seit Jahren, dass bei Crashtests überwiegend Dummys
benutzt werden, die 1,78 Meter groß und 78 Kilogramm
schwer sind. Das entspricht nämlich dem sogenannten 50-
Prozent-Mann. Die Anatomie von Frauen ist aber ganz
anders. Frauen sind leichter, kleiner und anders proportioniert.
Daher haben Frauen ein um 30 Prozent höheres
Risiko, schwere und tödliche Verletzungen bei Autounfällen
zu erleiden. Die Pedale und die Sicherheitssysteme
werden der weiblichen Anatomie nicht gerecht. Als die
Hamburger Zweite Bürgermeisterin und Senatorin für
Wissenschaft, Forschung und Gleichstellung Katharina
Fegebank vor kurzem eine alle Geschlechter umfassende
Unfallforschung forderte, wurde sie von der Bild-Zeitung
lächerlich gemacht, sie wolle Crashtests „gendern“. Befassen
wir uns also einmal mit der bedauernswerten Rolle, die
Frauen in der Medizin spielen, als Ärztinnen und als Patientinnen.
Als Ärztinnen haben Frauen die Medizin inzwischen längst
erobert, aber nur auf den ersten Blick. Noch auf dem 26.
Deutschen Ärztetag wurde es abgelehnt, Frauen zum Medizinstudium
zuzulassen.
Frauen sollten sich ihren Aufgaben als Gattinnen, Mütter
und Führerinnen des Haushaltes widmen und nicht "auf
dem steinigen und dornenvollen Feld der ärztlichen Praxis
nach Schätzen graben". Das war 1898. Heute sind knapp
zwei Drittel der Medizinstudierenden Frauen, und im medizinischen
Berufsalltag stellen Frauen etwa die Hälfte.
Auffällig ist dem gegenüber der immer noch verschwindend
geringe Anteil von Frauen in Führungspositionen. Da
unterscheidet sich die Medizin nicht von der übrigen Gesellschaft.
Als Patientinnen haben es Frauen in der Medizin richtig
schwer, wenn sie überhaupt wahrgenommen werden.
Noch immer werden Pharma-Studien fast nur mit männlichen
Probanden durchgeführt. Die Medikamente nehmen
aber auch Frauen ein, mit zum Teil ganz anderen Wirkungen
– das ist häufig gefährlich. Noch immer werden viele
Operationen künstlicher Gelenke mit Implantaten vorgenommen,
die an der männlichen Anatomie entwickelt
worden sind. Trotzdem werden Frauen diese Gelenke
eingebaut, auch wenn sie nicht passen und Komplikationen
verursachen. Noch immer werden Symptome von Krankheiten
wie Herzinfarkt, Depressionen oder Diabetes an
Männern erforscht, noch immer werden Behandlungsleitlinien
überwiegend von Männern geschrieben – das ist
häufig tödlich. Und noch immer werden Krankheiten, die
fast nur Frauen betreffen, ignoriert und nicht wie jede
andere Krankheit behandelt. Ein Beispiel ist das Lipödem.
Das Lipödem ist eine angeborene, schmerzhafte und behindernde
Fettverteilungsstörung an Beinen und Armen
mit drei Stadien, die schon vor über 80 Jahren von Allen
und Hines an der Mayo-Klinik in Rochester beschrieben
worden sind. Das Lipödem betrifft nur Frauen. Diese quälen
sich mit Kompressionshosen, Lymphdrainagen und
Schmerzmitteln durchs Leben. Sie müssen zu allem Überfluss
auch noch ertragen, als zu dick oder gar fett abgefertigt
zu werden, obwohl das Lipödem mit Adipositas überhaupt
nichts zu tun hat. Es gibt für das Lipödem keine kausale
Behandlung. In Frage kommt einzig und allein die
Fettabsaugung. Erst seit 2020 und nur für Frauen im Stadium
3 kann die Fettabsaugung zu Lasten der Krankenkasse
verordnet werden. Tausende von Frauen müssen weiterhin
einige Zehntausend Euro auf den Tisch plastischer Chirurg:
innen blättern, weil sie nicht so lange warten können,
bis sie im katastrophalen Stadium 3 angekommen sind.
Ich bin ganz sicher: Wäre das Lipödem eine Männerkrankheit,
dann wäre die operative Behandlung längst eine
selbstverständliche Leistung der Krankenkassen.
*Bernd Hontschik
Dr. med. Bernd Hontschik, geb. 1952, war bis 1991 Oberarzt an der Chirurgischen Klinik des Krankenhauses Frankfurt-Höchst und bis 2015 in eigener chirurgischer Praxis tätig. Er ist Autor des Bestsellers "Körper, Seele, Mensch" und Herausgeber der Reihe "medizinHuman" im Suhrkamp Verlag. Er schreibt Kolumnen in der Frankfurter Rundschau, ist Mitglied bei der Uexküll-Akademie (AIM), bei mezis und bei der IPPNW und im wissenschaftlichen Beirat der Zeitschrift "Chirurgische Praxis". www.hontschik.de/chirurg
Letzte Veröffentlichungen: "Erkranken schadet Ihrer Gesundheit", Westend-Verlag 2019, "Kein Örtchen. Nirgends." Westend-Verlag 2020.
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