"Ver...brecherisch"

Angela Merkel hat in ihrer Amtszeit „eine Sprache etabliert, bei der man am Ende eines Satzes nicht mehr weiß, ob überhaupt eine – und wenn ja, welche – inhaltliche Position vertreten wird.“ Selten wurde sie deutlich, noch seltener „überdeutlich“, das aber nur, wenn es um russische Verbrechen ging.

von Bernd Fischer
25.10.2021



Angela Merkel wurde, wie die Süddeutsche Zeitung vom 11. Mai 2015 schrieb, „zum 70. Jahrestag des Kriegsendes überdeutlich.“ An einem solchen Tag müsste, sollte man meinen, den Opfern des verbrecherischen Krieges gedacht und den allliierten Befreiern, insbesondere den Soldatinnen und Soldaten der Roten Armee, gedankt werden. Angela Merkel dachte aber nicht daran, sich auf das Naheliegende zu beschränken. Als deutsche Kanzlerin dachte und fühlte sie vermutlich wie mein Vater, der auf Stalin verweisen musste, wenn ich „Hitler“ sagte, obwohl ihm Hitler stets zuwider war. Frau Merkel wird ähnliche und andere Gründe gehabt haben, ausgerechnet an diesem Tag die Integration der Krim in das Staatsgebiet der Russischen Föderation als „ver…brecherische und völkerrechtswidrige Annexion" zu verurteilen. Nach der Pressekonferenz im Mai 2015 in Moskau wurde viel darüber gerätselt, warum sie nach der ersten Silbe „ver..." gezögert hatte, bevor das „…brecherische“ über ihre Lippen kam. Die verbale Gleichsetzung deutscher Raub- und Vernichtungskriege mit einem überwiegend gewaltfreien Akt politischer Selbstbestimmung wurde beim Rätselraten fleißig übersehen, ebenso die Tatsache, dass die Kanzlerin die Unverschämtheit besessen hatte, ihren Gastgeber Wladimir Putin eines Verbrechens zu bezichtigen, was dieser mit erstaunlicher Gelassenheit zur Kenntnis nahm.

Es hätte – ach! - so schön werden können auf der Krim: Die rechtsgedrehte Ukraine überlässt der Nato den Schwarzmeerhafen, deutsche Fregatten liegen wieder vor Sewastopol, deutsche Matrosen besuchen deutsche Kriegsgräber und gedenken der Kameraden, die im zweiten Weltkrieg dort gefallen oder – siehe unten - in Kriegsgefangenschaft geraten sind, ein deutscher Trompeter spielt dazu ein traurig schönes Lied, und das Ganze endet mit „Hipp-Hipp-Hurra!“

Auch damals, zu Kriegsbeginn 1941, war Schönes für die Krim geplant. „Einen Eindruck, wie brennend die Nazis die Eroberung der Krim herbeiwünschten, vermitteln einige Auszüge aus den jetzt veröffentlichten, nicht offiziellen Gesprächen Hitlers mit Bormann“, schrieb der 1979 verstorbene Kriegsreporter, Dichter und Schriftsteller Konstantin Simonow im ersten Band seiner Kriegstagebücher:

  • „Die Schönheit der Krim wollten sie sich mittels Autobahnen zugänglich machen. Die Krim sollte ihre Riviera werden. Kreta sei von der Sonne verdorrt und trocken. Zypern wäre nicht schlecht, aber die Krim könne man auf dem Landweg erreichen (Gespräch in der Nacht vom 5. zum 6. Juli).
  • Die Südukraine, insbesondere die Krim, solle völlig in eine deutsche Kolonie verwandelt werden (Gespräch vom 27. Juli).
  • Die Krim liefere Zitrusfrüchte, Baumwolle und Kautschuk. Zehntausende Acres Plantagen reichten aus, um die Unabhängigkeit des Großdeutschen Reiches in dieser Hinsicht zu sichern. Dafür werde man die Ukrainer mit Glasperlen und allem sonstigen versorgen, was den Kolonialvölkern gefällt (Gespräch vom 18. September).
  • In den Ostgebieten werde er (Hitler) alle slawisch erdkundlichen Namen durch deutsche ersetzen. Die Krim könne man beispielsweise in Gotenland umbenennen“ (Gespräch vom 02. November).“

„Ein seltsam zwiespältiges Gefühl befällt mich“, schrieb Simonow, „wenn ich jetzt das Buch dieses schlecht gebildeten Kannibalen lese, der es liebte, seine Gespräche für die Geschichte mitstenographieren zu lassen. Er behauptete in vollem Ernst, nach Meinung des Russen sei die Hauptstütze der Zivilisation der Wodka, Russland könne er mit einer Handvoll Menschen regieren, es sei ein großer Fehler, den russischen Eingeborenen Bildung zukommen zu lassen, da man vor der Aufgabe stünde, dieses Land mit Hilfe deutscher Umsiedler zu germanisieren und mit der einheimischen Bevölkerung wie mit Rothäuten umzuspringen. (…) Die deutschen Kolonisten sollten in erstaunlich schönen Siedlungen wohnen. Die deutschen Behörden würden wunderbare Gebäude erhalten, die Stadthalter Paläste. (…) Auf dreißig bis vierzig Kilometer Entfernung von den Städten sei ein Gürtel schöner Dörfer zu schaffen, verbunden durch erstklassige Straßen. Jenseits dieses Gürtels befände sich eine andere Welt, in der es den Russen gestattet sei zu leben.“

Am 16. März 2014 hat die Bevölkerung der Krim mit überwältigender Mehrheit die Integration ihrer Heimat in das Staatsgebiet der Russischen Föderation beschlossen, ohne im deutschen Kanzleramt vorab gefragt zu haben, ob das auch gestattet sei. Frau Merkel reagierte „überdeutlich“ mit deutsch-kolonialem Beißreflex, was den Gebissenen nicht daran gehindert hat, ihr beim Abschiedsbesuch im vergangenen September in Moskau einen Blumenstrauß in die Hand zu drücken.

Damit sie nicht nach der Pistole greifen kann?
Wer weiß.

ps: In der Einleitung habe ich aus dem Gedächtnis eine kluge Frau zitiert, deren Name mir allerdings entfallen ist. Wer mir in der Beziehung weiterhelfen kann, sei herzlich bedankt.


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