„Wer sich die Freiheit herausnimmt, sich nicht impfen zu lassen, obwohl medizinisch nichts dagegen spricht, steht für die Folgen selbst ein – nicht die Solidargemeinschaft“, sagt der NRW-Gesundheitsminister Laumann, sagen die Arbeitgeberverbände, sagen unisono CDU, SPD, Grüne, FDP, ja sogar die Linke. Dieser Beschluss wird die Betroffenen zur Verheimlichung ihrer Testergebnisse zwingen, denn die ökonomische Drohung geht an deren Existenz. So wird eine versteckte Pandemienische entstehen, eine unbeherrschbare obendrein.
von Bernd Hontschik*
27.09.2021
Die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall ist für uns alle eine
Selbstverständlichkeit. Als unter Bismarck ein Sozialgesetz
nach dem anderen in Kraft trat, ging es der damaligen Regierung
in erster Linie darum, der erstarkenden Sozialdemokratie
den Wind aus den Segeln zu nehmen. Das Gesetz
über die Krankenversicherung der Arbeiter von 1883 garantierte
den Versicherten schon damals kostenfreie ärztliche
Behandlung und für maximal dreizehn Wochen ein Krankengeld
ab dem dritten Erkrankungstag. Das Gesetz ist in
den letzten 138 Jahren vielfach modifiziert worden, insbesondere
ist die Lohnfortzahlung heute auf die Dauer von
sechs Wochen begrenzt. Und: Wenn ein Arbeitnehmer seine
Arbeitsunfähigkeit selbst verschuldet hat, so entfällt der
Anspruch auf Lohnfortzahlung.
Was aber heißt „selbst verschuldet“? Verletzt beim Drachenfliegen,
Motorradrennen, Fußballspielen, bei gefährlichen
Sportarten – selbst verschuldet? Bei Rot über den
Fußgängerüberweg gegangen und angefahren worden –
selbst verschuldet? Geschlechtskrank wegen ungeschütztem
Verkehr – selbst verschuldet? Volltrunken vom Barhocker
gefallen – selbst verschuldet? Arbeitsunfähig wegen Schönheitsoperationen,
Kinderwunschbehandlungen, Kettenrauchen
- selbst verschuldet? Nach bisheriger Rechtsprechung
kann ein Arbeitnehmer mit seiner Gesundheit umgehen,
wie er das für richtig hält. Man darf hemmungslos rauchen,
man muss sich nicht impfen lassen, und man kann essen
und trinken, was und so viel man möchte. Die Latte für den
Verlust der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall lag und liegt
sehr hoch. Jedenfalls bis jetzt.
Ein Sonderfall aber ist die Quarantäne, denn die Betroffenen
sind ja gar nicht krank. Sie müssen zu Hause bleiben, weil sie
mit Erkrankten Kontakt hatten. Die Lohnfortzahlung im
Quarantänefall wird daher vom Staat getragen, nicht von
den Arbeitgebern, nicht von den Krankenkassen. Die Bundesländer haben dafür bislang mehr als 600 Millionen Euro
zahlen müssen. Das wollen sie nun nicht mehr. „Wer sich
die Freiheit herausnimmt, sich nicht impfen zu lassen, obwohl
medizinisch nichts dagegen spricht, steht für die Folgen
selbst ein – nicht die Solidargemeinschaft“, sagt der
NRW-Gesundheitsminister Laumann, sagen die Arbeitgeberverbände,
sagen unisono CDU, SPD, Grüne, FDP, ja sogar
die Linke. Dieser Beschluss wird die Betroffenen zur Verheimlichung
ihrer Testergebnisse zwingen, denn die ökonomische
Drohung geht an deren Existenz. So wird eine
versteckte Pandemienische entstehen, eine unbeherrschbare
obendrein.
Dieser Beschluss ist aber nicht nur kontraproduktiv, sondern
auch ein mehrfacher Skandal. Zum einen wird auf diese
Weise der Druck auf Nicht-Geimpfte weiter erhöht. Das ist
Impfzwang durch die Hintertür. Man darf sich nicht fürchten
vor dieser Impfung, man darf sich keine Sorgen machen
über diese neue Technologie, man darf sich keine Gedanken
machen über eventuelle Langzeitfolgen. Impfen oder nicht:
das ist inzwischen eine politische Entscheidung, keine medizinische
mehr.
Zum zweiten wird das Schuldprinzip wieder salonfähig gemacht.
Dass man sein Leben gestalten kann, wie man das
für richtig hält, gilt nicht mehr. Die panische Angst vor der
nächsten Welle der Pandemie wird als Vorwand missbraucht
für einen weiteren Abbau des Solidarprinzips. Wer
sich nicht impfen lässt, ist aber keineswegs automatisch
unsolidarisch, schädlich für die Allgemeinheit, sondern vielleicht
einfach nur ängstlich oder vorsichtig. Wer sich nicht
impfen lässt, kann sich dennoch perfekt und vorbildlich an
alle Pandemie-Regeln halten und stellt in keiner Weise eine
Gefahr für seine Mitmenschen dar.
Das ist der dritte und schlimmste Teil dieses Skandals: Die
Spaltung der Gesellschaft in Gute und Böse. Wie soll diese
Wunde jemals wieder heilen?
*Bernd Hontschik
Dr. med. Bernd Hontschik, geb. 1952, war bis 1991 Oberarzt an der Chirurgischen Klinik des Krankenhauses Frankfurt-Höchst und bis 2015 in eigener chirurgischer Praxis tätig. Er ist Autor des Bestsellers "Körper, Seele, Mensch" und Herausgeber der Reihe "medizinHuman" im Suhrkamp Verlag. Er schreibt Kolumnen in der Frankfurter Rundschau, ist Mitglied bei der Uexküll-Akademie (AIM), bei mezis und bei der IPPNW und im wissenschaftlichen Beirat der Zeitschrift "Chirurgische Praxis". www.hontschik.de/chirurg
Letzte Veröffentlichungen: "Erkranken schadet Ihrer Gesundheit", Westend-Verlag 2019, "Kein Örtchen. Nirgends." Westend-Verlag 2020.
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