Entfremdete Verhältnisse und verselbständigte Macht
Teamarbeit und Kooperation im agilen Kapitalismus (Teil 2)

von Hermann Bueren*


27.11.2023

Agile Teams, in denen Beschäftigte eigenverantwortlich und möglichst kunden- bzw. patientennah arbeiten sollen, existieren mittlerweile in vielen Unternehmen und sozialen Einrichtungen. Im Management und bei Unternehmensleitungen haben sie sich den Ruf einer geradezu idealen Kooperationsform erworben. Sie sind davon überzeugt, mit agilen Teams auf die schnellen Wandlungen des Marktes und auf die Bedürfnisse von Kunden zielgenau reagieren zu können. Ähnlich verhält es sich in Einrichtungen aus dem Gesundheits- und Sozialwesen. Hier setzen Einrichtungsleitungen darauf, dass selbstorganisierte Teams die „prekäre“ Situation (zu wenig Personal, schlechte Finanzlage, Arbeitsverdichtung), in der sich viele dieser Einrichtungen gegenwärtig befinden, am besten bewältigt werden können.

Das Management des „Selbst“ Die Erwartungen an die Mitglieder eines agilen Teams sind hoch. Sie sollen die Erledigung ihrer Arbeitsaufgaben eigenständig organisieren und ihre Arbeitsleistungen selbstständig steuern. Zudem wird von ihnen die Übernahme von Verantwortung für bestimmte Arbeitsbereiche und zugleich die Fähigkeit zur Selbstreflektion in Hinblick auf ihre eigene Arbeit und ihr Verhalten im Team erwartet. Die Mitgliedschaft in einem agilen Team verlangt eine Reihe von Eigenschaften, die über das, was wir gerne als „Teamspirit“ oder „Teamgeist“ bezeichnen, weit hinaus gehen. Die Beschäftigten sollen

• eine hohe Leistungsbereitschaft zeigen, die Teamleistung (mit)definieren und sich für das Leistungslevel des gesamten Teams verantwortlich fühlen,
• eine Selbstverpflichtung gegenüber dem Team eingehen und zusichern, die Arbeitsziele zum vereinbarten Zeitpunkt zu erfüllen (Commitment),
• akzeptieren, dass das eigene Leistungsverhalten zum Gegenstand der teaminternen Diskussion werden kann (Transparenz),
• das eigene Verhalten kritisch reflektieren und bereit sein, das Leistungsverhalten anderer Teammitglieder zu thematisieren und zu kritisieren (Selbst und Fremdbeobachtung),
• die gemeinsam getroffenen Regeln akzeptieren und sich in die Arbeitskultur des Teams integrieren.

Kommunikation und Verhalten im Team unterliegen dem Primat einer vorbehaltlosen Öffnung, die von jedem einzelnen Mitglied des Teams erwartet wird. Die Beschäftigten sind nicht nur gefordert, selbst gemachte Fehler in der Arbeitsausführung vor dem Team zu bekennen, sie sollen auch das Verhalten anderer Teammitglieder beobachten und falls erforderlich in der Teamsitzung ansprechen.


Kommunikation und Verhalten im Team unterliegen dem Primat einer vorbehaltlosen Öffnung, die von jedem einzelnen Mitglied des Teams erwartet wird. Die Beschäftigten sind nicht nur gefordert, selbst gemachte Fehler in der Arbeitsausführung vor dem Team zu bekennen, sie sollen auch das Verhalten anderer Teammitglieder beobachten und falls erforderlich in der Teamsitzung ansprechen. Wer von anderen Mitgliedern auf sein eigenes Arbeitsverhalten angesprochen wird, soll nicht von sich ablenken oder Abwehrverhalten zeigen. Vielmehr hat er sich der Kritik zu stellen und Lernbereitschaft zu zeigen. Solche Verhaltensweisen der Selbstoffenheit und einsichtsvoller Selbstkritik werden in der agilen Community als Ausdruck einer „positiven Fehlerkultur“ bezeichnet oder, wie es im Manifest der agilen Arbeit bei der Telekom AG heißt, als Beitrag „zur Förderung einer produktiven Kultur der Zusammenarbeit“ erklärt. (1) Tatsächlich erinnern sie eher an die Praxis therapeutischer Selbsterfahrungsgruppen, in der die eigene Person und deren individuelle Defizite vor der Gruppe thematisiert werden.

Selbsttechniken und Governance
Mit solchen Erwartungen an die eigene Person mussten sich die Arbeiter, die in den Fabriken Henry Fords zu Beginn des 20. Jahrhunderts arbeiteten, nicht befassen. Man erwartete von ihnen, sich dem Fließbandtakt anzupassen und den Befehlen der Vorgesetzten zu gehorchen (siehe Teil 1). Die technisch-mechanische Form der Kooperation, die das Management in Fords Fabriken präferierte, steht in deutlichem Kontrast zur gegenwärtigen Kooperation der agilen Teamarbeit. Musste hier noch all jenes, was üblicherweise als Ausdruck des Selbst zugerechnet wird – Eigenverantwortung, Selbstständigkeit oder Selbstinitiative, - „offiziell am Fabriktor abgegeben werden, so werden nun (...) genau diese subjektiven Eigenschaften als produktive Kraft entdeckt und explizit in die Organisation von Arbeit eingefordert.“(2)

Selbstkritisches Eingestehen von Fehlern, die gegenüber dem Team signalisierte Lernwilligkeit oder die Bereitschaft zur Optimierung des eigenen Arbeitsverhaltens lassen sich vor diesem Hintergrund als Indizien für den fundamentalen Wandel verstehen, den die Kooperation in der kapitalistischen Arbeitsorganisation vollzogen hat. Eine immer größere Rolle in dieser Kooperation spielen inzwischen kommunikative Fähigkeiten, die für den Austausch mit den Anderen im Team erforderlich sind, und die Aneignung und Anwendung einer Reihe von Selbsttechniken wie zum Beispiel Selbstbeurteilung der eigenen Leistung, Akzeptanz von Feedback oder die Bereitschaft zur Selbstverbesserung. Das Interessante oder Auffällige an diesen Selbsttechniken ist, dass sie nicht vom Management kommen, sei es per Anweisung oder Aufforderung. Kein Vorgesetzter übt Druck aus. Auch das Team tritt gegenüber dem einzelnen Mitglied, nicht als Machtinstanz in Erscheinung und sagt: „Tu, was wir Dir sagen!“ Vielmehr sind es bestimmte Prozesse, Gruppendynamiken und Techniken der „Soft Power“, die dafür sorgen, dass das Team im Sinne des Unternehmensinteresses funktioniert. Die Politikwissenschaftlerin Wendy Brown spricht von einer „Governance“, eine informelle Art des Regierens, die „in Prozessen, Normen und Praktiken institutionalisiert ist“ und sich durch den Rückzug von direkten Befehlsstrukturen zugunsten von Elementen, die auf Eigenverantwortung und Aktivierung von Akteuren auszeichnet.(3) Kennzeichen einer Governance, heißt es weiter, sei es, dass Befehle durch Zusammenspiel, die Durchsetzung von Interessen hingegen durch Mobilisierung erfolgen. „Die Governance konzentriert sich auf Werkzeuge und Instrumente zur Erreichung von Zielen“ und „ersetzt von oben nach unten gerichteten Verfügungen und Vollzüge durch horizontale Netzwerke, die einen gemeinsamen Zweck verfolgen.“ (4)

Kein Vorgesetzter übt Druck aus. Auch das Team tritt gegenüber dem einzelnen Mitglied, nicht als Machtinstanz in Erscheinung und sagt: „Tu, was wir Dir sagen!“ Vielmehr sind es bestimmte Prozesse, Gruppendynamiken und Techniken der „Soft Power“, die dafür sorgen, dass das Team im Sinne des Unternehmensinteresses funktioniert.


Machtausübung und Gruppendynamik
Mit welchen organisatorischen Maßnahmen sorgen Management und Unternehmensleitungen dafür, dass agile Teams mit beständig hohen Leistungsanforderungen konfrontiert sind? Wie erfolgt Machtausübung informeller Art (Governance) in einem selbstorganisierten Team, welche Rolle spielt dabei die Gruppendynamik? Wie und warum entstehen in einem Team Leistungsdruck, auch wenn kein Vorgesetzter diesen offiziell einfordert?

Dass jede Gruppe, jedes Teams über eine eigene Dynamik verfügt, ist eine Erkenntnis der Forschung über Gruppen und ihrem Verhalten. Wie Gruppendynamiken gelenkt und beeinflusst werden können, ist ein Thema, das die Arbeitspsychologie schon seit Jahrzehnten beschäftigt. Als neue, nach dem Ersten Weltkrieg entstandene Disziplin interessierten sich Wissenschaftler dieses Fachs von Anfang an für die Frage, wie Arbeits- und Leistungsverhalten der Arbeiter zugunsten der Profitabilität des Unternehmens beeinflusst werden können. Bereits in den 1930iger Jahren bildete sich um Kurt Lewin, einen aus Deutschland emigrierten Psychologen, eine Arbeitsgruppe, die Untersuchungen zur Steigerung von Leistung und Motivation von Gruppen durchführte. Ein Ergebnis ihrer Forschungen ist die Erkenntnis, dass die Verhaltensspielräume einzelner Mitglieder sich durch Interventionen beeinflussen lassen. Innerhalb der Gruppe ausgeübter Druck spielt dabei eine entscheidende Rolle.

Dieser Zusammenhang gilt insbesondere für Gruppen, deren Mitglieder voneinander abhängig sind, wie es für agile Teams zutrifft. Je mehr eine zu lösende Aufgabe eine enge Zusammenarbeit von den Teammitgliedern verlangt, desto stärker ist die Abhängigkeit und desto bedeutsamer wird in der Folge das (persönliche) Verhalten eines jeden Mitgliedes. Nur wenn alle ihre für den Erfolg des Teams nützlichen und notwendigen Eigenschaften einbringen, kommt das Team zum Ziel. Die Teams spüren nicht nur Leistungsdruck, sie können diesen auch selbst ausüben. Da das Arbeitsergebnis des Teams nur gemeinsam erreicht werden kann, unterliegt jedes Teammitglied einem starken Konformitäts- und Leistungsdruck. Die Mitglieder wollen sich selbst und ihren KollegInnen einen Beweis ihrer Leistungsfähigkeit geben und sich als zuverlässige Mitglied eines Teams erweisen. Das Bedürfnis nach Konsens führt dazu sich den Leistungserwartungen des Teams zu unterwerfen oder sich an einem Leistungsniveau zu orientieren, das durch besonders leistungsstarke KollegInnen dominiert wird. Gerade in den arbeitsintensiven Hochphasen, wenn etwa die „Deadline“ eines Abgabetermins gefährlich nahe rückt, entsteht dann Stress. Diejenigen, die nicht mithalten oder mithalten können, geraten in dieser Situation schnell unter Druck. Wie belastend die Situation von Beschäftigten in agilen Arbeitsformen empfunden wird, zeigt eine Befragung des DGB-Index Gute Arbeit: Fast die Hälfte der Befragten fühlt sich durch die agile Methode, regelmäßig ein Arbeitsergebnis für das Team zu liefern, unter Druck gesetzt, und über zwei Drittel der Arbeitenden machen Überstunden, um den Leistungsanforderungen gerecht zu werden. (5)

Der durch das Team ausgeübte Druck gegenüber dem einzelnen Beschäftigten kann weit wirksamer sein als der eines „klassischen“ Vorgesetzten. Er wird deswegen als noch härter, als noch wirkungsvoller wahrgenommen, weil Abweichungen von den Normen mit dem Ausschluss aus dem Team „bestraft“ werden können.


Ähnliches gilt auch für das selbstorganisierte Team in der Altenpflege (Teil 1). Der durch das Team ausgeübte Druck gegenüber dem einzelnen Beschäftigten kann weit wirksamer sein als der eines „klassischen“ Vorgesetzten. Er wird deswegen als noch härter, als noch wirkungsvoller wahrgenommen, weil Abweichungen von den Normen mit dem Ausschluss aus dem Team „bestraft“ werden können. Diese Form der Macht, die der Soziologe Horst Joas als strukturelle Macht bezeichnet „kann ausgeübt werden gegen den Willen anderer Akteure, damit sie Dinge tun, die sie sonst nicht täten oder ihren Willen zu bestimmen, dass sie gewisse Dinge tun wollen.“

Die Selbstverpflichtung
Bei dieser Verpflichtung, die häufig als „Commitment“ bezeichnet wird, handelt es sich um eine verbindliche Zusage des Einzelnen gegenüber den anderen Mitgliedern zur Erbringung einer bestimmten Leistung. Im Scrum Team erfolgt diese persönliche Leistungsbemessung im Zusammenhang mit der Berechnung des Zeitaufwands von Arbeitsaufgaben (Stories) durch Planning poker, ein Spiel, das nicht nur dem Namen nach Ähnlichkeiten mit einer Pokerrunde hat.(6) Aber im Unterschied zum Pokerspiel, in dem jeder Spieler aus der Bieterrunde aussteigen kann, ohne seine Karten offenzulegen, sorgt Planning poker für eine gruppendynamisch bestimmte Situation. Jeder kann erkennen, was die anderen Mitglieder leisten wollen oder zu leisten bereit sind. Das Spiel mit den aufgedeckten Karten fordert ein persönliches Bekenntnis und die Bereitschaft zur Selbstoffenbarung. Da jeder seinen Teil zum Erfolg des gesamten Teams beitragen möchte, besteht die Tendenz, die eigene Leistungsbereitschaft eher höher als zu niedrig zu veranschlagen. Um den Erwartungen des Teams zu entsprechen, wird er aus dem Kartensatz eine Karte mit höherer Wertigkeit ziehen. Auf diese Weise entsteht - ohne Anweisung eines Vorgesetzten – ein gesteigertes Leistungslevel, dem die Teammitglieder folgen, weil sie sich gegenseitig dazu verpflichtet haben.

Die Einhaltung der dem Team gegebenen Zusage ist für viele Beschäftigte eine Frage der Selbstachtung. Denn niemand möchte den Eindruck erwecken, nicht belastbar oder ein schwacher „Teamplayer“ zu sein. „Wer da nicht mithält oder mithalten kann, steht bei der täglichen Analyse des Fortschritts schnell unter Druck“, schreibt Frank Sauerland, Bereichsleiter Tarifpolitik bei der Gewerkschaft ver.di mit Blick auf die Scrum-Teams bei der Telekom. „Um nicht zurückzufallen gegenüber den Kolleg*innen, arbeiten viele Beschäftigte dann schneller, intensiver und auch länger, als es ihnen eigentlich lieb ist und als es die Gesundheit erträgt.“ (7) Die Angst vor dem öffentlichen Blick (des Teams) auf die eigene Leistung und die aufkommende Befürchtung des Einzelnen, den Leistungsnormen nicht zu entsprechen, führen letztlich dazu, dass im Team nicht über die Höhe von Leistungsnormen und Arbeitsintensität, sondern über Leistungsunterschiede zwischen den Mitgliedern und individuelle Defizite diskutiert wird.

Die Angst vor dem öffentlichen Blick (des Teams) auf die eigene Leistung und die aufkommende Befürchtung des Einzelnen, den Leistungsnormen nicht zu entsprechen, führen letztlich dazu, dass im Team nicht über die Höhe von Leistungsnormen und Arbeitsintensität, sondern über Leistungsunterschiede zwischen den Mitgliedern und individuelle Defizite diskutiert wird.


Welch starken Einfluss ein Team auf einzelne Beschäftigte ausüben kann, wie sehr Leistung und Arbeitsmenge mittlerweile durch Vereinbarungen (Commitment) im Team bestimmt werden, zeigt eine Untersuchung der Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) zur Leistungssteuerung und Arbeitsintensität in der Dienstleistungsbranche. Demnach werden bei 53 Prozent aller Befragten die Arbeitsmenge über gemeinsame Vereinbarungen im Team oder einer Projektgruppe bestimmt. In einigen Branchen oder Berufsgruppen liegt dieser Anteil sogar weit über diesem Durchschnitt und ist inzwischen bedeutsamer als die übliche Leistungssteuerung durch Vorgesetzte per Anweisung. Insbesondere bei Beschäftigten in der Alten- und Krankenpflege (57%), bei sozialpädagogischen Berufen (74%). bei wissenschaftlich Beschäftigten an Hochschulen (72%) und in der IT-Branche (77%) ist die Teamvereinbarung die dominierende Form der Leistungssteuerung. (8)

Transparenz: Selbst- und Fremdbeobachtung
Eine wichtige Rolle im agilen Unternehmen spielt die Transparenz von Wissen und Menschen. Verstanden wird darunter die an die Beschäftigten gerichtete Aufforderung, das eigene Arbeitswissen und die eigene Person für die Interaktion und Zusammenarbeit im agilen Team zu öffnen, also transparent zu machen. “Raus aus dem Silo – rein in die Zusammenarbeit!“ lautet die Direktive an die Beschäftigten.(9) Für die gewünschte Transparenz sollen die täglichen, kurzen Besprechungen des Teams über die geleistete Arbeit und die zu erledigenden Arbeitsschritte sorgen. Hinzu kommen Teamsitzungen in regelmäßigen Abständen, die zur Arbeitsverbesserung und Selbstreflektion des Teams genutzt werden sollen.

In einem Scrum-Team sollen die einzelnen Mitglieder täglich erläutern, was sie getan haben und wie sie vorankommen. Die Leistung jedes einzelnen Teammitglieds wird dadurch schnell sichtbar und kann bewertet werden. Gibt es Verzögerungen, weil ein Teammitglied seine Aufgaben nicht rechtzeitig erledigt, kommen auch die anderen nicht voran. Die vorgebrachten und die tatsächlichen Gründe für Verzögerungen im Arbeitsablauf werden in täglichen Besprechungen offensichtlich, weil sie offen und direkt besprochen werden. So wird der Beschäftigte zu einer „öffentlichen“ Person. Quasi von selbst entstehen so im Team Verfahren, mit denen die Mitglieder untereinander eine Transparenz durch gegenseitige Beobachtung praktizieren. Diese Transparenz der Arbeitsfortschritte wird von vielen Beschäftigten als unangenehme Kontrolle wahrgenommen. Assoziiert werden damit Gefühle von Unsicherheit und Bevormundung und der Druck, sich rechtfertigen zu müssen: „Man fällt automatisch am nächsten Tag in so eine Rechtfertigungshaltung. (…) Ja, warum man’s nicht geschafft hat. Und warum man nur fünf Stunden eingeplant hat, was ja auch mal sein kann, wenn man vielleicht einen privaten Termin hat, und dann doch acht gebraucht hat. Das ist dann … ja, ist schon so eine Rechtfertigungshaltung.“ (10). Eins solche Kontrollsituation ist aus dem Buch 1984 von George Orwell bekannt. Ist es dort der „Große Bruder“, der Fremd- und Selbstbeobachtung einer ganzen Gesellschaft organisiert, so wird die Kontrolle im Scrum-Team „demokratisiert.“ „Jeder ist Beobachter aller anderen und der von allen anderen Beobachtete.“ (11)

„Man fällt automatisch am nächsten Tag in so eine Rechtfertigungshaltung. (…) Ja, warum man’s nicht geschafft hat. Und warum man nur fünf Stunden eingeplant hat, was ja auch mal sein kann, wenn man vielleicht einen privaten Termin hat, und dann doch acht gebraucht hat. Das ist dann … ja, ist schon so eine Rechtfertigungshaltung.“


Regeln und Arbeitskultur
In den Fabriken des Henry Fords betrachtete das Management die unter den Beschäftigten praktizierte Kommunikation als einen störenden Faktor. Es war davon überzeugt, dass die Beschäftigten dadurch allzu sehr von ihrer Arbeit abgelenkt würden. Im agilen Team ist das genau anders herum. Hier sollen die Beschäftigten miteinander kommunizieren. Sie sollen sich über die Leistung des Teams austauschen und über Möglichkeiten der Optimierung der eigenen Arbeit sprechen. Im Mittelpunkt steht dabei die Suche nach Lösungen für die täglich auftauchenden Probleme. Damit diese Einengung der Thematik auf die unmittelbare Arbeitsebene auch gewahrt bleibt, bekommt die Kommunikation im Team eine Struktur mit festen Regeln. Management und Unternehmensberatungen begründen die Erforderlichkeit dieses Reglements mit dem Wunsch nach Zeitersparnis und Effizienz der Treffen eines Teams. Das Reglement reicht von einfachen Regeln des Gesprächs über Blitzlichter, Ist-was-Runden zu Beginn der Sitzungen, Zeitvorgaben für bestimmte Bearbeitungen (Timeboxing) bis hin zum Erlernen von Feedback-Regeln, dem Mitteilen von Ich -Botschaften oder der Anwendung der vier Schritte der gewaltfreien Kommunikation. Im Scrum-Team ist der Scrum-Master verantwortlich für die Einhaltung der vereinbarten Regeln. In Teams anderer Branchen ist diese Gesprächsführung und Begleitung des agilen Teams häufig eine Angelegenheit des Personalmanagements oder das Betätigungsfeld einer umfangreichen Beratungsbranche, in der sich zahllose Psychologen, Coaches, Teamtrainer und Moderatoren bewegen.

Die vereinbarten Regeln formalisieren das Gespräch und begrenzen die Möglichkeiten gemeinsam Themen zu besprechen, die für die Beschäftigten möglicherweise ebenso bedeutsam sind - sei es eine kritische Diskussion über zu viel Stress, über den Personalmangel oder das Verarbeiten von Frusterlebnissen bei der Arbeit. Im Grunde haben die Regeln die Wirkungsweise eines Filtersystems, das das Abgleiten des Teamgesprächs in eine unvorhergesehene oder unkontrollierbare Richtung verhindern soll. Im Fokus des Teams stehen ein lösungsorientiertes Denken und eine handlungsbezogene Teamkultur, die sich innerhalb der vorgegebenen Bahnen der Arbeitsorganisation bewegt. Ideen oder Vorschläge sind erwünscht, aber nur wenn sie realistisch oder umsetzbar sind. Gesucht werden „konstruktive“ oder „kreative“ Lösungen, wie unter diesen Rahmenbedingungen, die von Management und Unternehmensleitungen häufig achselzuckend als unveränderbar hingestellt werden, am besten zu arbeiten ist. Durch das Teamgespräch werden die Beschäftigten somit in einem Prozess eingebunden, „bei dem das Ziel vorgegeben ist und praktisch nicht infrage gestellt werden kann, und bei dem sie dem Druck ausgesetzt sind, sich erwartungskonform zu verhalten.“ (12)

Gefühlsäußerungen, die auf Zorn, Verärgerung oder Mutlosigkeit hindeuten, sind in dieser Kultur genauso störend wie spontan geäußerte „Meckerei“ oder das Zeigen einer pessimistischen Haltung. Verhaltensweisen dieser Art gelten als „nicht-zielführend“ oder als „unprofessionell“. Allzu häufig wird stattdessen ein Sprachgebrauch der positiven Arbeitsgefühle gepflegt, in dem Engagement, Aufgabenorientierung und der „gute Teamgeist“ zum Ausdruck kommen und eine intakte Gruppendynamik signalisieren sollen.

Zur Kultur vieler agiler Teams gehört auch die Verwendung einer teaminternen Sprache. In den Scrum-Teams der IT-Industrie, die häufig länderübergreifend oder multinational zusammengesetzt sind, hat sich analog zu den digitalen Arbeitsmethoden eine (technische) Fachsprache mit vielen Anglizismen gebildet. Andere Teams verwenden einen empathisch geprägten Wortschatz, der mit der Verwendung von Begriffen wie Achtsamkeit, Respekt, Offenheit oder Vertrauen oder mit der immer wieder eingeforderten Wertschätzung auffallende Ähnlichkeiten mit der Sprache von Therapeuten hat. Die Einschätzung, es handele sich bei diesen Begriffen lediglich um oberflächliche Worthülsen, wäre indes zu einfach. Begriffe wie Offenheit oder Vertrauen kennt jeder Mensch in seinem persönlichen Bereich im Umgang mit Freunden und Angehörigen. Wer möchte nicht mit Respekt und Wertschätzung behandelt werden, wer möchte nicht in einer Umgebung von Menschen arbeiten, die diese Werte und einen empathischen Umgang pflegen? Dieser emotionale, psychologisch geprägte Kommunikationsstil stellt durchaus ein Fortschritt gegenüber der „harten“ Sprache des Kommandos dar, wie er in den Fabriken Henry Fords zu Beginn des 20. Jahrhunderts praktiziert wurde. Aber er verlangt auch die Bereitschaft jedes einzelnen Mitglieds, sich den Beobachtungen und den Beurteilungen der eigenen Person zu stellen, selbstkritisch die eigene Arbeit zu hinterfragen und somit dem Team das Recht einzuräumen, was sich in der kapitalistischen Arbeitsorganisation ansonsten Management und Unternehmensleitungen zu eigen machen: Das Recht, jeden Einzelnen in seinem Leistungsverhalten zu beurteilen und zu kontrollieren.

Soft power und Wohlfühlfassade
Solche Initiativen sind exemplarisch für Machttechniken, die sich als „Soft power“ bezeichnen lassen. Der Begriff geht zurück auf ein so bezeichnetes Konzept des amerikanischen Politikwissenschaftlers Joseph Nye, „Soft power“, so definiert er diese Machttechnik, „ist die Fähigkeit eines Akteurs, andere für sich einzunehmen oder zu einer im eigenen Interesse stehenden Entscheidung zu bewegen, ohne dabei Zwangsmaßnahmen anzuwenden.“ Soft power ist eine Technik der Macht, die ihre Ziele ohne erkennbare Machtausübung erreichen will. Das klingt paradox. Aber Ihre Durchsetzung erfolgt tatsächlich nicht, indem Beschäftigte mit Anweisungen oder Befehlen unmittelbar konfrontiert werden und sich dazu verhalten müssen. Ein Vorgesetzter oder Manager, der die Beschäftigten in direkter Form mit der Aufforderung „Streng Dich an!“ oder „Zeig mal Einsatz!“ traktiert, ist in diesem Konzept nicht vorgesehen. Stattdessen erfolgt das vom Management angestrebte Verhalten durch die Vermittlung von Werten und Gefühlen in dem betriebsöffentlichen Rahmen des Teams. Bisweilen sind es auch die KollegInnen aus dem eigenen Team, die in der gemeinsamen Besprechung Appelle oder Botschaften mit der Aufforderung zu noch mehr Anstrengung und Leistungswillen an die anderen Mitglieder des Teams richten. Das macht diese weit unverfänglicher und „sanfter“ als jeder Befehl. „Je härter die Bedingungen, so scheint es, desto softer die Sprache, desto kultivierter das Miteinander. Je mehr Menschen ausgeschlossen sind aus der von gedeckten Konten geschützten schönen neuen Goodwill-Welt, desto inklusiver sprechen die in ihr Befangenen“, kritisiert die Journalistin Katharina Körting die in den Unternehmen verbreitete Intention durch eine Wohlfühl-Fassade der Auseinandersetzung mit Beschäftigteninteressen aus dem Weg zu gehen. (13) Natürlich sei es angenehmer freundlich behandelt zu werden, aber die in agilen Teams grassierende Tendenz zu einer „Wertschätzungs-“ und „Feedback-kultur“ laufe darauf hinaus, Konflikte durch Coaching und Moderation zu glätten und die eigentlichen Machtverhältnisse im agilen Team zu verschleiern.

Bisweilen sind es auch die KollegInnen aus dem eigenen Team, die in der gemeinsamen Besprechung Appelle oder Botschaften mit der Aufforderung zu noch mehr Anstrengung und Leistungswillen an die anderen Mitglieder des Teams richten. Das macht diese weit unverfänglicher und „sanfter“ als jeder Befehl.


Unsichtbare Machtverhältnisse
Das Gebot des konstruktiven und lösungsorientierten Denkens und die Fokussierung des Teams auf die Mach- und Realisierbarkeit arbeitsorganisatorischer Probleme gehören zu den ehernen Grundsätzen agiler Teamarbeit. Tatsächlich klingt es ja auch vernünftig oder plausibel, wenn das Team lösungsorientiert und konstruktiv denkt und arbeitet. Versteift sich aber ein Team auf diese Grundsätze, besteht die Gefahr, die grundlegenden Konflikte in der kapitalistischen Arbeitsorganisation und die Interessensgegensätze zwischen Management und Beschäftigten aus der Teamdiskussion auszuklammern. Ein solches Verschwinden von der Bildfläche des Teams oder die Entschärfung bzw. Glättung von Konfliktthemen durch Coaching- und Moderationstechniken, kann dann dazu beitragen, dass eine ernsthafte innerbetriebliche Auseinandersetzung über Konflikte nicht mehr stattfindet. Für Management und Unternehmensleitungen ist das eine komfortable Situation, müssen sie sich doch ihrer Verantwortung nicht mehr stellen. Für Entscheidungen und Beschlüsse sind nicht die Wenigen wirklich Mächtigen verantwortlich zu machen, sondern die Beschäftigten selbst. Das macht Unternehmen nicht demokratischer oder hierarchiefreier. Im Gegenteil: Die Machtverhältnisse bleiben wie sie sind, nur bietet dieser Konstellation keinen Ansatzpunkt mehr für Widerspruch und Kritik.

Für Entscheidungen und Beschlüsse sind nicht die Wenigen wirklich Mächtigen verantwortlich zu machen, sondern die Beschäftigten selbst. Das macht Unternehmen nicht demokratischer oder hierarchiefreier. Im Gegenteil: Die Machtverhältnisse bleiben wie sie sind, nur bietet dieser Konstellation keinen Ansatzpunkt mehr für Widerspruch und Kritik.


Gruppendynamische Phänomene und Machttechniken der „Soft power“ bilden somit eine im Hintergrund des Teams wirkende Struktur, die das Verhalten und die Beziehungen im Team maßgeblich im Sinne des Unternehmens beeinflussen. Natürlich ist die Zunahme kommunikativer und kooperativen Aktivitäten in den agilen Teams zu begrüßen. Sie stellt für viele Beschäftigte sicherlich eine erfreuliche Veränderung ihrer Arbeitssituation dar. Aber diese Zunahme geht nicht zwangsläufig mit einer qualitativen Verbesserung der sozialen Beziehungen einher. Vielmehr entstehen in selbstorganisierten, agilen Teams neue oder bereits aus der Gruppenforschung bekannte Machtverhältnisse. Diese sind im Unterschied zu einer „klassischen“ Unternehmenshierarchie weniger identifizierbar oder auf Anhieb nicht so sichtbar wie die Autorität in Gestalt eines Vorgesetzten.

Phänomene der Selbstentfremdung
Sicherlich hätte Karl Marx diese agile Teamarbeit als eine Überwindung aus den Zwängen der technischen Kooperation begrüßt. Und gewürdigt hätte er sie als einen Meilenstein in der Fortentwicklung des Kapitalismus, als einen Prozess einer immer umfassender werdenden Kooperation von Menschen durch die Integration ihrer kommunikativen und sozialen Fähigkeiten. Als dialektisch denkender Mensch hätte er aber nicht die Augen davor verschlossen, dass im Kapitalismus jede Befreiung aus Zwängen zu neuen Formen des Zwangs und der Unterwerfung führt. Das gilt auch für die agile Teamarbeit mit all den Mechanismen von subtiler Machtausübung, Konformität, von Konkurrenz, von verstecktem und offenen Leistungsdruck und der Anpassung an vorgegebene Rahmenbedingungen. Als gegenwärtig „modernste“ Organisationsform im kapitalistischen Produktionsprozess stellt das agile Team in den Worten des Philosophen und Sozialwissenschaftlers Ingo Elbe ein entfremdetes Verhältnis dar, in dem „jeder den anderen und die Zusammenarbeit mit ihm als Mittel ansehen muss und diese Zusammenarbeit nicht Resultat der kollektiven Selbstbestimmung der Arbeitenden ist.“ (14) Im Team verhalte ich mich nicht, wie ich eigentlich bin, sondern wie ich als Leistungserbringer sein soll oder wie ich glaube sein zu müssen, damit ich am besten den Erwartungen des Managements in punkto Leistungsverhalten entspreche. Ich bewege mich in einer Rolle, die sich an den Erwartungen anderer orientiert. Und umgekehrt verkörpert das Team mir gegenüber die Leistungsanforderungen des Unternehmens und identifiziert mich in meiner Rolle als Leistungserbringer, der ich aber eigentlich nicht bin oder sein will.

Marx hat diese Erscheinungsformen von Selbstentfremdung und verselbstständigter Macht immer wieder kritisiert. Ihm war klar, dass unter kapitalistischen Verhältnissen die Kooperation der Beschäftigten nur in verkehrter Form, als Herrschaft über Individuen existieren kann: „Die Soziale Macht, die durch das Zusammenwirken entsteht“, wird, so schreibt Marx, von den Kooperierenden „nicht als ihre eigene, vereinte Macht, sondern als eine fremde, außer ihnen stehende Gewalt erfahren.“ (15) Er war aber davon überzeugt, dass in eine Gesellschaft ohne Ausbeutung und ungleicher Machtverteilung auch die entfremdeten Beziehungen in der Kooperation der Beschäftigten überwunden werden können. Denn im kooperativen Zusammenwirken äußert sich die überindividuelle Kraft der arbeitenden Menschen. Sie eignen sich Wissen an, verfügen über umfangreiche Erfahrungen mit dem Arbeitsprozess und können daher auch über die Entscheidungsprozesse und Organisation des Unternehmens selbst bestimmen. So gesehen kann die Kooperation auch die organisatorische Ebene einer selbstbestimmten und selbstorganisierten Arbeit sein. Dann entscheiden die Beschäftigten über die grundlegenden Bedingungen der Finanzierung und Personalplanung, über Ressourcen und Arbeitszeit.

Hier gehts zum 1.Teil

Dieser zweiteilige Beitrag von Hermann Bueren erschien - in einer leicht gekürzten Fassung - bereits in der Jungen Welt vom 6.10. und 9.10.2023


Anmerkungen
(1) Ver.di (Hrsg.) Agiles Arbeiten. Empfehlungen für die tarif- und betriebspolitische Gestaltung, Januar 2020, S.103
(2) Alexandra Rau: Von der Psychotechnik zur Psychopolitik. Eine gouvernementalitätstheoretische Skizze zur „Subjektivierung der Arbeit“ in: Arbeitsgruppe Sub A+O (Hg.): Ökonomie der Subjektivität – Subjektivität der Ökonomie, Berlin 2005, S.140
(3) Wendy Brown: Die schleichende Revolution: Wie der Neoliberalismus die Demokratie zerstört, Berlin 2015, S. 146
(4) ebenda, S.149
(5) Nadine Müller, Christian Wille: Gute agile Arbeit – Arbeitsstress im Zuge der Digitalisierung, in Gute Arbeit Ausgabe 2019: Transformation der Arbeit – Ein Blick zurück nach vorn, Frankfurt am Main 2019, S.162
(6) Eine ausführliche Darstellung dieses Spiels findet sich bei: https://de.wikipedia.org/wiki/Scrum#cite_note-PlanningPoker-69 (22.04.2021)
(7) https://tk-it.verdi.de/++file++5bd06a2df7be963846071c97/download/KOMM_7_2018.pdf (20.05.2021)
(8) https://innovation-gute-arbeit.verdi.de/gute-arbeit/materialien-und-studien/ver-di-studien/++co++cd60023e-6184-11eb-9c86-001a4a160116
(9) https://business-elf.de/silodenken-im-unternehmen-zusammenarbeit/ (16.01.2020)
(10) https://www.boeckler.de/pdf/p_fofoe_WP_023_2016.pdf (14.02.2020)
(11) Ulrich Bröckling: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt am Main 2007, S.238
(12) Agile Arbeit. Handlungshilfe für Betriebsräte, Broschüre der IGBCE, März 2021, S. 17
(13) K. Körting: Betreute Beziehungen. Kommunikation Wohlfühl-Coaching löst keine Konflikte und verschleiert die Machtverhältnisse, in: der Freitag, 2/2023, S.14
(14) ttps://www.rote-ruhr-uni.com/cms/IMG/pdf/Entfremdete_Arbeit.pdf (14.9. 2023)
(15) Robert Misik in: ? https://www.deutschlandfunk.de/re-das-kapital-6-6-kooperation-als-quelle-des-reichtums-100.html



*Hermann Bueren

Arbeits- und Industriesoziologe, langjähriger Mitarbeiter und Geschäftsführer bei "Arbeit und Leben DGB/VHS im Kreis Herford e.V." zahlreiche Veröffentlichungen

Hermann Bueren ist Autor des Buchs: „Bewegt Euch Schneller!“ Zur Kritik moderner Managementmethoden. Ein Handbuch, 300 Seiten, Kellner Verlag Bremen

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