von Christoph Butterwegge*
Womöglich besitzen inzwischen weniger als 45 hyperreiche (Unternehmer-)Familien mehr als die ärmere Hälfte der Bevölkerung, d.h. über 40 Millionen Menschen. Denn diese vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) stammende Zahl ist schon etwas älter. Kürzlich haben seine Verteilungsforscher Carsten Schröder, Charlotte Bartels, Konstantin Göbler, Markus M. Grabka und Johannes König frühere Untersuchungsergebnisse im Rahmen eines Forschungsprojekts für den Sechsten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung aktualisiert. Dabei griffen sie auf eine Spezialstichprobe von Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) zurück, nahmen eine Sonderbefragung von Vermögensmillionären vor und bezogen die Reichenliste eines Wirtschaftsmagazins ein, um auch Hyperreiche im Rahmen dieser Sonderauswertung zu berücksichtigen. Demnach entfallen heute 67 Prozent des Nettogesamtvermögens auf das oberste Zehntel der Verteilung, 35 Prozent konzentrieren sich auf das reichste Prozent der Bevölkerung und das reichste Promille kommt immer noch auf 20 Prozent des Nettogesamtvermögens. Aufgrund der neuen Untersuchungsmethode stieg der auf Basis regulärer SOEP-Daten berechnete Gini-Koeffizient von 0,78 auf 0,83. Dabei handelt es sich um ein Ungleichheitsmaß, das bei völliger Gleichverteilung (alle Personen besitzen das gleiche) 0 und bei extremer Ungleichverteilung (eine Person besitzt alles) 1 beträgt. 0,83 entspricht fast dem US-amerikanischen Vergleichswert, der üblicherweise mit 0,85 bis 0,87 angegeben wird, was die ganze Dramatik der Verteilungsschieflage hierzulande zeigt.
"Demnach entfallen heute 67 Prozent des Nettogesamtvermögens auf das oberste Zehntel der Verteilung, 35 Prozent konzentrieren sich auf das reichste Prozent der Bevölkerung und das reichste Promille kommt immer noch auf 20 Prozent des Nettogesamtvermögens."
Zwar fiel die Vermögenskonzentration noch höher als bisher dokumentiert aus, die Wissenschaftler/innen des DIW selbst wiegelten aber hinsichtlich der politischen Konsequenzen ihrer Forschungsergebnisse eher ab. Obwohl die Autor(inn)en ohne falsche Bescheidenheit für sich in Anspruch nahmen, den „blinden Fleck im Bereich sehr hoher Vermögen“ beseitigt zu haben, fehlte es der nach Veröffentlichung ihrer Forschungsergebnisse im Sommerloch ausgebrochenen Verteilungsdiskussion daher an Biss. So verwarfen sie die Forderung nach Wiedererhebung der Vermögensteuer wegen des angeblich zu hohen administrativen Aufwandes für die Erhebung und der möglichen Ausweichreaktionen davon Betroffener. Als weiteres Gegenargument, das sich ebenfalls tiefsitzende Ängste in der Bevölkerung zunutze macht, nannten die Autor(inn)en, dass viele Hochvermögende vornehmlich Betriebsvermögen halten: „Negative Anreize, ihr Vermögen produktiver Aktivität zuzuführen, kann langfristige Konsequenzen für den materiellen Wohlstand aller haben, weil Investitionen, die Arbeitsplätze geschaffen hätten, möglicherweise nicht mehr oder weniger umfangreich getätigt werden.“ Als würde auch nur ein Unternehmer, der diese Bezeichnung verdient, sein Gewinnstreben für den Fall einbüßen und sich als Privatier zur Ruhe setzen, dass er Vermögensteuer entrichten müsste!
Wenn es um die Verhinderung einer höheren Besteuerung von Reichen und Hyperreichen geht, ist diesen wie auch ihren publizistischen und wissenschaftlichen Steigbügelhaltern kein Vorwand zu fadenscheinig. Schröder und seine Koautor(inn)en führten selbst die von der Covid-19-Pandemie ausgelöste Rezession als vermeintliches Musterbeispiel für die möglicherweise krisenverschärfende Problematik einer ertragsunabhängigen Besteuerung an. Als ob es bei einer Vermögensteuer weder Freibetragsregelungen noch Stundungsmöglichkeiten gäbe, die negative Folgewirkungen vermeiden helfen!
Mit einer leichten Verschärfung der Schenkungs- und Erbschaftsteuer (stärkere Besteuerung von Firmenerben, zumindest Einschränkung des alle zehn Jahre neu in Anspruch zu nehmenden Freibetrages) sowie einer staatlich geförderten Vermögensbildung nannten Schröder und seine Koautor(inn)en nur zwei Alternativen zur Vermögensteuer, die zudem beide zahnlosen Tigern gleichen. Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand war das Patentrezept von CDU/CSU und FDP in den 1960er-Jahren, um die damals schon hohe Konzentration des privaten Reichtums bei mit dem Kosenamen „Familienunternehmer“ versehenen Konzernherren – laut dem sog. Krelle-Gutachten für das Arbeits- und Sozialministerium besaßen 1,7 Prozent der Bevölkerung seinerzeit 70 Prozent des Produktivvermögens – abzumildern. Bewirkt hat es nichts oder sogar das Gegenteil: Die vermögenspolitischen Maßnahmen der Bundesregierung erfüllten nur eine Alibifunktion gegenüber der Bevölkerungsmehrheit, die kaum am Zuwachs des Produktivvermögens beteiligt wurde. Da die Förderungsvorteile beim steuer-, aber auch beim prämienbegünstigten Sparen mit der Höhe des Einkommens wuchsen, statt durch eine degressive Staffelung der Prämien das Konsumopfer umso stärker zu belohnen, je höher es war, wurde das erklärte Ziel der Vermögensbildung für breite Bevölkerungsschichten nicht im Mindesten erreicht. Auch die Emission der sog. Volksaktien privatisierter Staatsunternehmen erwies sich als wenig verteilungswirksam.
Man kann die bestehenden Verteilungsstrukturen nicht dadurch beseitigen, dass man die Lohnabhängigen allesamt zu „kleinen Kapitalisten“ macht.
Man kann die bestehenden Verteilungsstrukturen nicht dadurch beseitigen, dass man die Lohnabhängigen allesamt zu „kleinen Kapitalisten“ macht. Vielmehr würden die Reichen noch reicher, wenn auch die Armen zu Börsianern und damit einem doppelten Risiko ausgesetzt würden: ihren Arbeitsplatz und ihr (kleines) Anlagevermögen zu verlieren, wenn das Unternehmen, an dem sie beteiligt wären, Insolvenz anmelden müsste. Wer gleichwohl behauptet, dass man der starken Vermögenskonzentration in Deutschland durch vermögensbildende Maßnahmen des Staates begegnen kann, ist entweder ein realitätsferner Ignorant, ein Wirtschaftslobbyist oder ein Opportunist, denn die Reichsten sind auch die politisch Einflussreichsten im Land.
Marcel Fratzscher, Präsident des DIW, hatte bereits im Jahr 2016 ein Buch mit dem für einen prominenten Ökonomen wie ihn geradezu martialischen Titel „Verteilungskampf“ vorgelegt. Darin wurde zwar beklagt, dass 40 Prozent der Bevölkerung kein nennenswertes Vermögen besäßen, wer erwartet hatte, dass sein Autor für eine Politik der Umverteilung (von oben nach unten) plädieren würde, sah sich allerdings getäuscht. Denn mehr als eine Bildungsoffensive zugunsten der sozial Benachteiligten (und natürlich des „Wirtschaftsstandorts D“) empfahl Fratzscher nicht. Dass die großen Medienkonzerne, die reichen Verlegerfamilien und ihre hochbezahlten Chefredakteure kein Interesse an staatlichen Umverteilungsmaßnahmen wie der Vermögensteuer haben, ist klar. Aber dass kritische Wissenschaftler wie die genannten Verteilungsforscher/innen am DIW ihre Position stützen, verwundert sehr, ähneln sie doch Hunden, die bellen, aber nicht beißen (dürfen).
* Prof. Dr. Christoph Butterwegge
Christoph Butterwegge hat bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt. 2017 kandidierte er für das Amt des Bundespräsidenten. Mit Bremen ist er auf vielfältige Weise verknüpft: 1980 Promotion zum Dr. rer.pol. in der Universität Bremen, von 1987-1989 dort auch wissenschaftlicher Mitarbeiter im Studiengang Weiterbildung. 1990 Habilitation im Fach Politikwissenschaft an der Universität Bremen, Dozententätigkeit in Bremen, 1991bis 1994 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bremischen Stiftung für Rüstungskonversion und Friedensforschung.
Letzte Buchveröffentlichung: "Die zerrissene Republik. Wirtschaftliche, soziale und politische Ungleichheit in Deutschland". Beltz Juventa. 20. November 2019. 414 Seiten. 24,95 Euro.
Sein neues Buch „Ungleichheit in der Klassengesellschaft“ erscheint am 9. September 2020 im PapyRossa Verlag.
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