Buchempfehlung: "Ukrainekrieg – Warum Europa eine neue Entspannung braucht."
Hrsg. Sandra Kostner und Stefan Luft, Westend academics 2023




von Ekkehard Lentz*
01.10.2023


Der Krieg in der Ukraine mit inzwischen geschätzten rund 500.000 Todesopfern und Verwundeten (Stand: Mitte August 2023) hat in Deutschland bisher zu keiner kontroversen Debatte geführt, in der Vertreter unterschiedlicher Positionen um die Zustimmung des Publikums ringen. Die Debatte ist im Gegenteil gekennzeichnet durch die nahezu vollständige Vorherrschaft jener Bellizisten, deren Motto ist: Waffen und noch mehr Waffen in die Ukraine, dann wird Russland besiegt werden. Die Fokussierung auf die Auseinandersetzung auf dem Schlachtfeld und den magisch herbeigeredeten Sieg der Ukrainer kennzeichnen die öffentliche Befassung mit diesem Thema. Positionen, die herrschende Narrative (oder die Narrative der Herrschenden) infrage stellen, sind zwar vorhanden, aber in der öffentlichen Wahrnehmung, insbesondere in den etablierten Medien, nicht präsent. Wer Alternativen zur Kriegsführung einfordert, wird wahlweise als Lobbyist des „Feindes“, als „Lumpenpazifist“ oder als „gefallener Engel“ diffamiert. In einer solchen politischen Lage kommt der Band „Ukrainekrieg. Warum Europa eine neue Entspannungspolitik braucht“ gerade zur rechten Zeit.

Die beiden Herausgeber Sandra Kostner und Stefan Luft haben zehn weitere Autoren gewonnen, die aus der Perspektive ihrer jeweiligen wissenschaftlichen Fachrichtungen verschiedene Aspekte des Krieges und seiner Geschichte analysieren. Zwei Autoren sind ehemalige Politiker – Klaus von Dohnanyi (SPD) und Willy Wimmer (CDU). Der thematische Rahmen des Bandes ist gespannt von der Geschichte der russisch-europäischen Beziehungen der letzten Jahrhunderte über Analysen zur Vorgeschichte des Krieges, zu den Erfahrungen mit Sanktionen und Wirtschaftskriegen, zur Rolle der Medien in der Kriegsberichterstattung und zur Rolle der Partei Bündnis 90/Die Grünen bis hin zu Lehren für eine künftige Entspannungspolitik.

In der Einleitung (gemeinsam mit Stefan Luft) und in ihrem Beitrag „Verspielte historische Chancen“ zeichnet die Historikerin und Politikwissenschaftlerin Sandra Kostner (Stuttgart) minutiös und quellenbasiert die Vorgeschichte des aktuellen Krieges in der Ukraine seit dem Verschwinden des Eisernen Vorhangs nach. Kein Krieg ist ohne seine Vorgeschichte zu verstehen – dass diese Selbstverständlichkeit wieder besonders betont werden muss, zeigt, wie unpolitisches Denken und Propaganda gegenwärtig die veröffentlichte Meinung dominieren. Kostner kommt zu dem Schluss: „Die Verantwortung für den Angriffskrieg trägt allein Putin. Aber daran, dass es überhaupt an den Punkt gekommen ist, wo er die Entscheidung traf, einen politischen Konflikt militärisch zu lösen, ist die unnachgiebige und zu sehr an eigenen Interessen orientierte Politik der US-geführten NATO mitverantwortlich. Der Westen täte daher sehr gut daran, sich selbstkritisch mit den Folgen seiner kompromisslosen Politik auseinanderzusetzen.“

Der Historiker Jürgen Wendler (Bremen) stellt ein ahistorisches und von Feindbildern geprägtes Russland-Bild in der gegenwärtigen Politik fest. Er verweist auf die vielfältigen Beziehungen zu Russland seit Jahrhunderten. Das vorherrschende Bild von Gut und Böse sei einfältig und werde keiner Seite gerecht. Die Friedensschlüsse des 19. Jahrhunderts seien auch deshalb möglich und nachhaltig gewesen, weil politisch-ideologische Differenzen ausgeklammert worden seien. Das unterscheidet die Politik im 19. Jahrhundert von der im 20. und 21. Jahrhundert. Wendler resümiert: „Die Europäische Union und insbesondere Deutschland hätten im besten Sinne historischer Erfahrungen die Rolle eines Brückenbauers spielen und die Durchsetzung von für alle Seiten akzeptablen Entscheidungen fördern können. Dass dies nicht geschehen ist, ist ein Versäumnis von historischer Tragweite.“

Der Politikwissenschaftler Günther Auth geht in seinem Beitrag häufig vernachlässigten Themen wie den wirtschaftlichen Motiven angloamerikanischer Interessengruppen und ihrer Verquickung mit den Regierungen nach. David Teurtrie, Politikwissenschaftler aus Paris, interpretiert in seinem Beitrag „Krieg in der Ukraine: die Folgen der Ausrichtung Europas an den strategischen Zielen der USA“ den Ukrainekrieg als Stellvertreterkrieg zwischen Russland und dem Westen. Letzterem sei es nicht gelungen, Russland weltweit zu isolieren. Der Wirtschaftswissenschaftler Jacques Sapir sieht darin einen der Gründe, warum die Sanktionen der EU und der USA die russische Wirtschaftskraft sehr viel weniger treffen als von den Initiatoren beabsichtigt. Er verfolgt die Geschichte von Wirtschaftskriegen zurück bis in die 1920er-Jahre und belegt mit zahlreichen Wirtschaftsdaten, dass die Effektivität von Sanktionen als gering eingestuft werden muss.

Von Interesse für zeitgeschichtlich Interessierte ist auch das Zeitzeugengespräch mit dem CDU-Politiker Willy Wimmer über deutsche Politik im Fahrwasser US-amerikanischer Interessen. Wimmer war von 1988-1992 parlamentarischer Staatssekretär im Verteidigungsministerium und von 1994-2000 Vizepräsident der parlamentarischen Versammlung der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) beziehungsweise der daraus hervorgegangenen Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Er berichtet aus eigener Anschauung, dass bereits Anfang der Neunzigerjahre ein Kurswechsel in der US-amerikanischen Politik zu beobachten war, der „eine völlige Abkehr bedeutete, und zwar innerhalb sehr kurzer Zeit, von allen Vereinbarungen des NATO-Gipfels vom Sommer 1990, von den Versicherungen, die Gorbatschow im Rahmen der Vereinbarung zur Wiedervereinigung Deutschlands hinsichtlich der NATO-Erweiterung mündlich gegeben wurden, und natürlich auch … der Charta von Paris“. Wimmer konstatiert: „Russland kämpft dagegen, aus Europa verdrängt zu werden. Diese Verdrängung ist eine Voraussetzung dafür, dass die USA ihre Hegemoniepläne umsetzen können. Den USA geht es darum, eine gesamteuropäische Zusammenarbeit, die Russland einbezieht, zu verhindern, weil dies ihre Pläne durchkreuzen würde. Eine tragfähige Friedenslösung wird nicht möglich sein, wenn die USA an ihren Plänen festhalten.“ Die Medienwissenschaftlerin Sabine Schiffer befasst sich in ihrem Beitrag „Von Euphemismen, Deutungsrahmen und Doppelstandards“ mit Arbeitsweisen und Techniken im Journalismus und stellt dabei eine weitverbreitete Voreingenommenheit und selektive Wahrnehmung fest. Die Ergebnisse von Framing („Perspektivgebung bei einem Sachverhalt durch sprachliche und bildliche Mittel sowie viele weitere“) schildert sie am Beispiel zahlreicher Themenfelder. Schiffers Darstellung erklärt vieles von dem, was gegenwärtig in den Medien zum Krieg veröffentlicht bzw. nicht veröffentlicht wird.

Weitere Beiträge – etwa „Die Grünen und der Krieg“ (Stefan Luft) oder „Augen zu und rein: Deutschland im Krieg“ von Wolfgang Streeck – legen Zusammenhänge frei, die für das Verständnis unserer Zeit sehr förderlich sind. In dem abschließenden Teil des Buches „Ausblicke und Einsichten“ betont Klaus von Dohnanyi: „Frieden kann es nur mit und nicht gegen Russland geben“. Er betont: „Die These, mit Putin redet man nicht, ist ein Vergehen gegen die politische Vernunft, solange Putin an der Macht und zu gefährlich für die Existenz nicht nur Europas ist.“

Der Politikwissenschaftler Stefan Luft (Bremen) rundet mit seinem Beitrag „Deutschland und der Krieg. Lehren für eine künftige Entspannungspolitik“ den Band ab. Er verwirft die auch in der SPD stark vertretene These, die Entspannungspolitik sei gescheitert. Vielmehr sei die Politik der Konfrontation seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und des Warschauer Pakts gescheitert, indem sie zu den massiven politischen Spannungen und letztendlich auch zur Entscheidung für diesen Krieg beigetragen habe. Luft plädiert für konkrete Friedensinitiativen aus Europa, was zur Voraussetzung hat, die gegenwärtige Politik vom Kopf auf die Füße zu stellen. Zahlreiche Handlungsoptionen stellt er zur Debatte (unter anderem Rüstungskontrolle und Abrüstung, Vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen). Das Buch schließt mit den Worten: „Egon Bahrs Vermächtnis ‚Es ist Europas Verantwortung, dass Kooperation zum Schlüsselwort unseres Jahrhunderts wird‘ darf nicht leichtfertig in den Wind geschlagen werden. Auch sein Konzept ‚Wandel durch Annäherung‘ war Mitte der 1960er-Jahre eine Provokation. Heute ist es das auch. Das ist kein Grund, es nicht zu wagen.“

In dem Band sind ausschließlich fundierte und auch verständlich geschriebene Beiträge enthalten. Sie geben zahllose wertvolle Hinweise für ein besseres Verständnis der vorherrschenden Politik, die zum Weiterdenken anregen. Das Buch kann ohne Zweifel als Dokument der Zeitgeschichte bezeichnet werden. Ihm ist eine weite Verbreitung zu wünschen.

*Ekkehard Lentz

Ekkehard Lentz ist Sprecher des Bremer Friedensforums

Zum Buch: "Ukrainekrieg. Warum Europa eine neue Entspannungspolitik braucht", Herausgegeben von Sandra Kostner und Stefan Luft, Westend academics 2023, 352 Seiten, 24 Euro.

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