Arno Luik hat sich mit dem Zustand der Deutschen Bahn und seiner Entwicklung in den letzten Jahrzehnten auseinandergesetzt. Er hat immenses Wissen zusammen getragen und umfassendes Zahlenmaterial vorgelegt.
Doch kann man dieses Buch wirklich für viele Menschen als Lektüre empfehlen?
Im ersten Teil beschäftigt sich Luik ausführlich mit Stuttgart 21, dem Mega-Tiefbahnhofprojekt in der Landeshauptstadt Baden-Württembergs. Wenn Sie bisher den Verlautbarungen der Bahn dazu Glauben geschenkt haben – und dies auch weiterhin tun wollen – dann fassen Sie dieses Buch besser erst gar nicht an. Luik berichtet über unterdimensionierte Tunnel, über eine unverantwortbare Gleisneigung, über gefährlich Fluchtwege, die an manchen Stellen nur 90 Zentimeter breit sind, über Belüftungsmaschinen, die im Brandfall riesige Mengen an Sauerstoff ins Feuer blasen. Er lässt Experten zu Wort kommen, die von einer Gefahr für Leib und Leben sprechen, die von der Aufgabe anerkannter Regeln der Technik reden. Er zitiert einen Feuerwehrmann mit den Worten: „Ich schick meine Leute im Katastrophenfall nicht runter! Ich kann das nicht verantworten“. Luik lässt einen international anerkannten Brandschutzexperten zu Wort kommen: „Es ist eine Katastrophe mit Ansage. Im Fall eines Unfalls haben Sie die Wahl: Will ich ersticken? Oder zerquetscht werden? Oder verbrennen?“ Und das bei einem Bahnhof, der in Zukunft weniger Züge pro Stunde verkraften wird als der alte ! Und das bei einem Bahnhof, dessen Baukosten jährlich explodieren, der eigentlich laut Versprechungen von Bahn und Politik nie mehr als 4.5 Milliarden kosten sollte, sonst sei er unwirtschaftlich, mittlerweile sind wir schon bei über 8 Milliarden Euro. Von den vielen Millionen an Abfindungen, die die das Projekt begleitenden und unterstützenden Bahnchefs erhalten haben, wollen wir erst gar kein Aufhebens machen ! Auch nicht davon, dass z.B. der ehemalige Bahnchef Mehdorn es schaffte, sein Gehalt innerhalb kürzester Zeit um 400 % zu steigern.
Nun, wird so mancher sagen, wir haben aber jetzt die Grünen als mächtigen Mitspieler in der politischen Arena, die Ökologie und Verkehrswende auf ihre Fahnen geschrieben haben und deren politischer Einfluss in Baden-Württemberg und im ganzen Land kaum noch zu überbieten ist. Wenn Sie also weiterhin Vertrauen in die Aussagen und Versprechungen der Grünen haben möchten, dann ist dieses Buch ebenfalls nichts für sie. Wie war aus dem Haus Winfried Kretschmanns vor seiner Wahl zu hören?: „Die Bahn muss wissen: Die Zahlungen des Landes sind verfassungswidrig, der Finanzierungsvertrag nichtig. Falls die Grünen ...die Regierungsverantwortung tragen, werden wir die Zahlungen sofort einstellen und bereits gezahlte Beiträge zurückverlangen. Mit uns wird es keine Fortsetzung des Verfassungsbruchs geben“. Darauf folgte eine Kehrtwende um 180 Grad, nicht anders als beim Verkehrsminister Winfried Hermann. Aber eine solche Art von Schizophrenie sind Grünen-Anhänger ja gewohnt: Vor sozialer Verantwortung reden und gleichzeitig unter Schröder und Fischer den größten Sozialabbau in der Geschichte Deutschlands einleiten. Von Frieden reden und gleichzeitig militaristische Aktivitäten unterstützen. Same procedure as every year.
Aber, so werden Sie denken, ein funktionierender öffentlicher Bahnverkehr ist doch ein wichtiger Baustein bei dem Versuch, den drohenden Klimawandel zu stoppen. Und die Bahn verspricht doch - bei allen zugegebenen Verspätungen in Einzelfällen – ihr Bestes zu tun und viel zu investieren, um dem gerecht zu werden. Sollten Sie dieses „Urvertrauen“ in die Bahn behalten und ihren Versprechungen weiterhin Glauben schenken wollen – dann lassen Sie sich bloß nicht auf die Analysen dieses Buches ein.
Luik berichtet gekonnt und detailreich, warum die Bahn bewusst herunter gewirtschaftet wurde und wird, in welch desolatem Zustand sie sich in Wirklichkeit befindet – ein Krimi über die Mafia könnte kaum spannender sein.
Ein winziger Ausschnitt aus der Vielfalt der präsentierten Fakten: Wussten Sie, dass das Schienennetz seit 1994 um 20 % zurückgebaut wurde, dass Weichen und Kreuzungen praktisch halbiert wurden, dass seit 1999 ca. 2500 Bahnhöfe verkauft worden sind? Die Bahn wurde auf Vorzeigestrecken zurückgestutzt (wobei selbst die nicht einmal funktionieren), als Verkehrsmittel in der Fläche für breite Schichten der Gesellschaft wurde sie kaputt gemacht. Ist Ihnen bekannt, dass bei einer Prüfung 2012 jede vierte der 257 untersuchten Brücken schwere Mängel aufwies, mit anderen Worten, sich in einem gefährlichen Zustand befanden? Wussten Sie, dass die mit der Bahn transportierten Güter drastisch zurückgegangen sind zugunsten eines weitaus umweltschädlicheren LKW-Verkehrs? Wussten sie, dass die Bahn in 140 Ländern tätig ist, dort Verluste macht und es zuhause nicht schafft, ihrem gesetzlichen Auftrag nachzukommen, nämlich einen funktionieren öffentlichen Verkehr zu ermöglichen? Wussten Sie, dass 2017 140 000 Züge komplett ausgefallen sind ? Wussten Sie, dass ca. ein Drittel des DB-Fuhrparks mit Dieselmotoren unterwegs ist, echte Dreckschleudern ohne Rußpartikelfilter ? Ist Ihnen bekannt, dass Autos, Lastwagen und Flugzeuge seit 1970 bis zu 15 Dezibel leiser geworden sind, der Schienenverkehr aber um 11 Dezibel lauter ? Wussten Sie, dass die Bahn Mitbesitzerin des Atomkraftwerks Neckarwestheim ist? Wussten Sie, dass die Bahn jährlich 65 Tonnen des wahrscheinlich krebserzeugenden Herbizids Glyphosat versprüht?
Sollten Sie also ihr Vertrauen in die demokratischen Strukturen von Politik und Wirtschaft in unserem Land behalten wollen – nach der Lektüre dieses Buches besteht die Gefahr der Desillusionierung und des Vertrauensverlustes in das Funktionieren unseres Staates.
Kein Buch, das man vor dem Einschlafen lesen sollte. Ihr Tiefschlaf könnte gefährdet sein.
Arno Luik
Arno Luik, geb. 1955, war Reporter für Tempo und die Wochenpost, Autor für Geo und den Tagesspiegel, war Chefredakteur der taz (1995/96) und seit 2000 ist er Autor der Zeitschrift Stern. Für seine Berichterstattung in Sachen Stuttgart 21 erhielt er 2010 den "Leuchtturm für besondere publizistische Leistungen" des Netzwerks Recherche. 2015, bei der Anhörung des Deutschen Bundestags "Offene Fragen zum Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 aufklären" war Luik als Sachverständiger geladen.
Zum Buch: "Schaden in der Oberleitung", Westend-Verlag 2019, 296 Seiten, 20 Euro. Erhältlich im Buchhandel oder online direkt hier beim Verlag.
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