Buchempfehlung: "Putin. Herr des Geschehens?"
von Jacques Baud, Westend Verlag 2023


Putin

10.11.2023

Die Diskussionen um den Krieg in der Ukraine ist oft von Halbwissen, Vorurteilen und rein ideologischen Konzepten bestimmt, die einer friedlichen Lösung im Wege stehen. Dabei wäre es viel wichtiger, die Vorgeschichte dieses Krieges zu kennen, um einen für beide Seiten erträglichen Ausweg zu finden. Genau dazu leistet Jacques Baud, der selbst an NATO-Missionen in der Ukraine beteiligt war, einen wichtigen Beitrag. Zahlreiche Dokumente aus den USA, der Ukraine, der russischen Opposition und aus internationalen Organisationen ermöglichen einen von Fakten getragenen Blick auf das Drama des Krieges und seine Vorgeschichte.
Das uns vom Westend Verlag freundlicherweise zur Verfügung gestellte Kapitel aus seinem Buch "Ist die russische Politik die Ursache für die Krise im Donbass?" gibt einen guten Einblick in sein von großem Hintergrundwissen und Tatsachen geprägtes Vorgehen.

Ist die russische Politik die Ursache für die Krise im Donbass?

Der offizielle französische Diskurs – der von den »Experten« aller Couleur wiedergegeben wird – besagt, dass die Lage der Krim und der Konflikt im Donbass die Folgen russischer Politik sind.

In der Sendung »C dans l’air« vom 16.2.2022 erklärt Alain Bauer, Professor für Kriminologie, den sogenannten Gebietshunger Putins auf den Donbass mit der historischen Bedeutung der Kiewer Rus in der russischen Nationalgeschichte und sieht darin eine religiöse Dimension. Das ist völlig falsch. Das Becken des Flusses Don (der Donbass) ist erst viel später, dank der Steinkohle, ein Teil der russischen Geschichte geworden. Es genügt, ein Auge auf die Karte zu werfen, um festzustellen, dass der Donbass rein gar nichts mit der historischen Kiewer Rus gemein hat. Man könnte die Kiewer Rus fast als die heutige Ukraine ohne den Donbass definieren!

Nach ihrem Staatsstreich im Jahr 2014 schaffen die ukrainischen Ultranationalisten am 23. Februar das Kiwalow-Kolesnitschenko-Gesetz zu den Amtssprachen ab. Dieses Ereignis löst Demonstrationen aus, deren Unterdrückung zum Aufstand der zwei Republiken von Lugansk und Donezk führt.

Die brutale Unterdrückung der Demonstrationen scheint nur schwer mit dem westlichen politischen Diskurs und mit dem demokratischen Idealismus, der ihn begleitet, vereinbar zu sein. Die neuen Machthaber von Kiew erfinden eine russische »Invasion«, um sich eine Legitimität zu verschaffen, und erklären sie mit den »ehrgeizigen Plänen« Putins. Die NATO sowie die westlichen Regierungen verbreiten bereitwillig die Anschuldigungen des Präsidenten Petro Poroschenko, obwohl sie schon weitestgehend widerlegt sind.

Im Jahr 2014 befinde ich mich bei der NATO. Ich stelle dort fest, dass die Depeschen, die wir erhalten, aus Polen kommen und nicht »stimmig« sind mit den Informationen der OSZE. Es ist damals offensichtlich, dass versucht wird, die Ereignisse aufzubauschen und ihnen eine internationale Dimension zu geben. Aber selbst innerhalb der NATO bin ich »nur« ein Schweizer und damit genau genommen ein »Partner« und kein »Verbündeter«: Meine Warnungen werden höflich zugunsten eines energischeren Diskurses beiseitegeschoben. Das Oberste Hauptquartier der NATO veröffentlicht ein Satellitenfoto von vier Geschützen in der Ukraine und behauptet, es handle sich dabei um eine russische Einheit. Abgesehen von der Tatsache, dass die russische Militärdoktrin den Gebrauch von isolierten Geschützstellungen im Feindesland nicht vorsieht, zeigt die Suche nach Übereinstimmungen, dass es sich in Wirklichkeit um das aufständische Regiment »KALMIUS« handelt. Es wurde aus einer russischsprachigen ukrainischen Einheit gebildet, die zu den Autonomisten übergelaufen war.

Offensichtlich widerspricht das Überlaufen ganzer Einheiten der ukrainischen Armee zu den Aufständischen der Idee, dass es sich beim Maidan um eine Volksrevolution handeln würde … Im Übrigen scheint die NATO seit August 2014 keine weiteren Fotos zum Veröffentlichen gefunden zu haben …

Im Mai 2014 veranlasst die bewaffnete Unterdrückung der Demonstrationen die Bevölkerung gewisser Gegenden der ukrainischen Regionen von Donezk und Lugansk, Referenden zu organisieren, um den Akt zur Selbstbestimmung der Volksrepublik Donezk (angenommen mit 89 Prozent) und den Akt zur Selbstbestimmung der Volksrepublik Lugansk (angenommen mit 96 Prozent) zu verabschieden. Die staatlichen Medien France 24 und Radio-Télévision Suisse sprechen von Referenden zur »Unabhängigkeit«, was jedoch falsch ist: Es handelt sich um Referenden zur »Selbstbestimmung« oder »Autonomie« (самостоятельность). Im Folgenden sprechen diejenigen, die Öl ins Feuer gießen wollen, weiterhin von »Separatisten« (Unabhängigkeitskämpfern) und »Separatisten-Republiken«. Dies ist Desinformation zur Täuschung der öffentlichen Meinung.

In der Folge dieser Referenden bitten die zwei Republiken in Briefen an Wladimir Putin um die »Eingliederung« in Russland. Aber er kommt ihrer Bitte nicht nach.

In einer im September 2014 verabschiedeten Resolution spricht das Europaparlament von einer »direkten militärischen Intervention«, von Waffenstillstandsverletzungen »hauptsächlich durch russische reguläre Truppen« und behauptet, Russland habe »seine Militärpräsenz auf ukrainischem Staatsgebiet verstärkt«. Das ist selbstverständlich falsch: Die Behauptungen kommen von den polnischen Nachrichtendiensten, wurden aber nie von den OSZE-Beobachtern bestätigt. Wie so häufig macht das Europaparlament Anschuldigungen und setzt Sanktionen durch, ohne dass diese Anschuldigungen durch Tatsachen belegt wären. So viel zum Rechtsstaat!

Am 29.1.2015 erkennt der ukrainische Generalstabschef General Wiktor Muschenko an, dass sich keine russischen Truppen auf ukrainischem Boden befinden und dass nur einzelne russische Kämpfer beobachtet worden seien. Seine Behauptung wird im Oktober 2015 vom Chef des Inlandsgeheimdienstes (SBU) General Wassyl Hryzak bestätigt, der damals präzisiert, dass seit Beginn der Kämpfe in der Ostukraine nur 56 russische Militärs beobachtet worden seien. Tatsächlich haben die ukrainischen Truppen junge Russen gefangen genommen (die Uniformen aus dem Afghanistan-Krieg trugen), die in ihrer Urlaubszeit gekommen waren, um sich den Aufständischen im Donbass aus Solidarität anzuschließen. Eine ähnliche Erscheinung ließ sich schon während des Kriegs auf dem Balkan beobachten, als junge Schweizer mit ihren Armeewaffen über das Wochenende nach Bosnien gingen, um eine »Feuertaufe« zu bekommen!

Man kann übrigens genau dasselbe Phänomen bei ukrainischen Fremdenlegionären beobachten, die im März 2022 versuchen, in die Ukraine zu gelangen, um dort zu kämpfen.

Als Chef der NATO-Einheit, die damals für den Kampf gegen die Weiterverbreitung von leichten Waffen zuständig ist, überwache ich das Auftauchen von neuen Waffen bei den Aufständischen, um festzustellen, ob Russland sie mit Waffen versorgt. Und in der Tat haben die Aufständischen gewisse Waffen, die nie zur Ausstattung der ukrainischen Armee gehörten. Das genügt bereits, um den Vorwurf einer russischen Intervention zu schüren … Wäre da nicht die Tatsache, dass die fraglichen Waffen sehr wohl zur Ausstattung des ukrainischen Inlandsgeheimdienstes (SBU) gehören, dessen Agenten zu den Aufständischen übergelaufen sind! … Was schwere Waffen angeht, so stelle ich fest, dass die beobachteten Geschütze regelmäßig mit dem Verschwinden einer ukrainischen Armee-Einheit in Zusammenhang stehen. Zu diesem Zeitpunkt lässt nichts auf eine logistische Unterstützung durch Russland schließen.

Im Juni 2015 beteuert Petro Poroschenko in einem Interview der italienischen Zeitung Corriere della Sera, Russland sei mit 200 000 Mann in der Ukraine aufmarschiert. Anschließend behauptet er im September vor der UN-Generalversammlung:

»Wir sind gezwungen, von der Russischen Föderation ausgebildete und bewaffnete Truppen zu bekämpfen. Schwere Waffen und militärische Ausrüstung sind in den besetzten Gebieten in einer solchen Anzahl angehäuft, dass die Mehrheit der Armeen der UN-Mitgliedsstaaten davon nur träumen könnte.«

In Wirklichkeit hat man rein gar nichts beobachtet. Davon abgesehen, falls sich 75 russische militärische Formationen in der Ukraine befänden, wie dies am 19.11.2016 in Istanbul vor der Parlamentarischen Versammlung der NATO verkündet wurde, dann hätte man logistische Fahrzeugkolonnen zur operativen Unterstützung dieser Einheiten und Militärbasen für die Soldaten erkennen müssen. Aber die amerikanischen Beobachtungssatelliten haben nichts entdeckt … Im Jahr 2018 gab der stellvertretende Chef der OSZE-Beobachtermission Alexander Hug in einem Interview der Zeitschrift Foreign Policy zu, dass die OSZE keine Beobachtungen gemacht habe, welche die Anwesenheit von russischen Truppen in der Ukraine belegen würden.

Die offizielle französische und europäische Sprachregelung besagt noch heute, dass Russland ein Konfliktteilnehmer ist. Die fixe Idee von einer direkten Verwicklung Wladimir Putins in die Angelegenheit hat Frankreich und Deutschland dazu gebracht, die Minsker Abkommen mit ihm verhandeln zu wollen. In der Reportage von Caroline Roux am 17.10.2021 stellt man fest, dass François Hollande mit der Überzeugung verhandelt hat, russische Truppen befänden sich im Donbass. Schon damals war bekannt, dass dies falsch war.

Des Weiteren hat er offensichtlich nichts von den Abkommen selbst verstanden. Denn weder Minsk I (5./19.9.2014) noch Minsk II (12.2.2015) betreffen Russland. Minsk I ist ein Grundsatzabkommen – getroffen von »den Vertretern bestimmter Gebiete der Regionen von Donezk und Luhansk« –, und Minsk II (siehe Anhang 3) betrifft die Durchführungsbestimmungen, die in einer UN-Resolution festgehalten sind (17.2.2015).

Die Desinformation ist – auch – in den verwendeten Bezeichnungen versteckt. Die Aufständischen im Donbass werden von den »Studio-Experten« der staatlichen Fernsehkanäle RTS oder France 24 mal als »Unabhängigkeitskämpfer« und mal als »Separatisten« bezeichnet, was falsch ist. Was schwerwiegender ist: François Hollande selbst benutzt auf France 5 den Begriff »Separatisten«, was den Grad seiner Aufrichtigkeit anzeigt, denn er war einer der Verhandlungsteilnehmer der Minsker Abkommen.

Just zu diesem Zeitpunkt streben die russischsprachigen Einwohner des Donbass nur eine Form der Autonomie an, die ihnen die Benutzung der eigenen Sprache und regionale Besonderheiten gestattet. Wie man in den Minsker Abkommen (siehe Anhang 3) nachlesen kann, ist nicht die Rede von einer »Abspaltung« der Republiken von Donezk und Lugansk von der Ukraine. Sie werden als »Teile des ukrainischen Staatsgebiets« bezeichnet. Deshalb hängt die Umsetzung dieser Abkommen einzig und allein von den Verhandlungen zwischen der Regierung von Kiew und »den Vertretern bestimmter Gebiete der Regionen von Donezk und Luhansk« (Artikel 9, 11 und 12) ab. Im Übrigen möge man beachten, dass im Text der Minsker Abkommen der Name »Luhansk« auf Ukrainisch gebraucht wird und nicht auf Russisch (Lugansk), was bedeutet, dass man sich auf ukrainischem und nicht russischem Territorium verortet. Und dass nicht davon die Rede ist, die Republiken von der Ukraine abzuspalten.

Die Verhandlungen, die zu den Minsker Abkommen führen werden, finden im April 2014 in Genf statt. Teilnehmer sind John Kerry, Catherine Ashton, Sergej Lawrow und Andrij Deschtschyzja, das heißt die Außenminister der Vereinigten Staaten, der Europäischen Union, Russlands und der Ukraine. Man spricht damals klar von einer innerukrainischen Lösung des Konflikts, insbesondere durch Verfassungsänderungen in Richtung eines Föderalismus.

Aber unmittelbar nach Genf verwarf die Ukraine diese Abkommen, um sich direkt in eine großangelegte Offensive unter dem Namen »Antiterroristische Operation« (ATO) gegen die aufständischen Kräfte zu stürzen. Die NATO sollte für das komplette Scheitern des im September 2014 unterzeichneten Abkommens Minsk I sorgen. Die von NATO-Offizieren unterstützte und beratene ukrainische Armee sollte im Februar 2015 in Debalzewo eine schmerzliche Niederlage erleiden. Das wiederum veranlasste die Ukraine, sich zum Minsker Abkommen II zu verpflichten. Es bildet die Fortsetzung zur Genfer Erklärung vom April und bestätigt den innerukrainischen Charakter des Konflikts im Donbass: Dies ist die russische Position und diejenige der Autonomisten im Donbass – unverändert seit 2014 –, die die Umsetzung der Abkommen fordern.

Jacques Baud

Jaques Baud hat einen Master in Ökonometrie und ein abgeschlossenes Nachdiplomstudium in internationaler Sicherheit und internationalen Beziehungen. Er arbeitete als für die Ostblockstaaten und den Warschauer Pakt zuständiger Analyst für den Schweizer Strategischen Nachrichtendienst und leitete die Doktrin für friedenserhaltende Operationen der Vereinten Nationen New York. Dort war er zuständig für die Bekämpfung der Proliferation von Kleinwaffen bei der NATO und beteiligt an den NATO-Missionen in der Ukraine.

Zum Buch: "Putin. Herr des Geschehens", von Jacques Baud, Westend Verlag 2023, 320 Seiten, 26 Euro.
Hier können Sie das Buch direkt bei den Buchkomplizen bestellen.

Mehr zu Ungleichheit und Verteilungs - gerechtigkeit



Alternativen zur wachsenden Ungleichheit


von Christoph Butterwegge

Selten war die Bundesrepublik Deutschland politisch so zerrissen wie nach dem parlamentarischen Trauerspiel in Thüringen und dem ihm folgenden Rücktritt Annegret Kramp-Karrenbauers als CDU-Vorsitzende. Um diese sich gewissermaßen auf der parteipolitischen Vorderbühne abspielenden Ereignisse verstehen zu können, muss man die gesellschaftlichen Hintergründe der Zersplitterung des Parteiensystems, des Niedergangs der beiden „Volksparteien“ und der Krise des parlamentarischen Repräsentativsystems einschließlich der sozialen Abstiegsängste in der unteren Mittelschicht und der (Wahl-)Erfolge des Rechtspopulismus ausleuchten.
Weiter lesen...


Corona-Virus in der EU: Gesundheitssysteme nicht vorbereitet


von Werner Rügemer

Der Corona-Virus hat die Gesundheitssysteme der Europäischen Union unvorbereitet getroffen. Die Ausrichtung am privatem Profit muss beendet werden
Weiter lesen...