von Christoph Butterwegge*
Während der COVID-19-Pandemie ist die soziale Ungleichheit
– wie unter einem Brennglas – deutlicher sichtbar geworden,
hat sich durch die monatelange Krise aber auch drastisch
verstärkt. Von einem „Ungleichheitsvirus“ kann mit Blick
auf SARS-CoV-2 jedoch ebenso wenig die Rede sein wie von
einem sozialen Gleichmacher. Die tiefe Kluft zwischen Arm
und Reich bestand vielmehr schon vor der Pandemie (Butterwegge,
2020a). Auch war das neuartige Coronavirus nicht für
die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, das kapitalistische
Wirtschaftssystem sowie die verteilungspolitischen Folgen
der Entscheidungen des Staates zum Infektionsschutz
und zur Bewältigung der Krisenfolgen verantwortlich.
Sucht man nach den Ursachen der seit Pandemiebeginn
wachsenden Ungleichheit, lassen sich ein gesundheitlich
oder pandemiebedingter Polarisierungsprozess, ein ökonomisch
oder rezessionsbedingter Polarisierungsprozess und
ein verteilungspolitisch oder subventionsbedingter Polarisierungsprozess
voneinander unterscheiden, die im Folgenden
analysiert werden.
"Arbeitsbedingungen, Wohnverhältnisse und Gesundheitszustand (Zahl und Schwere der sozial bedingten Vorerkrankungen) üben einen signifikanten Einfluss auf das Infektions-, Morbiditäts- bzw. Mortalitätsrisiko der Bundesbürger:innen aus, die deshalb ganz unterschiedlich von der Pandemie betroffen sind."
Arbeitsbedingungen, Wohnverhältnisse und Gesundheitszustand
(Zahl und Schwere der sozial bedingten Vorerkrankungen)
üben einen signifikanten Einfl uss auf das Infektions-,
Morbiditäts- bzw. Mortalitätsrisiko der Bundesbürger:innen
aus, die deshalb ganz unterschiedlich von der Pandemie betroffen
sind. Hieß es früher aufgrund der je nach Geschlecht
immer noch zehn Jahre höheren Lebenserwartung von Wohlhabenden
und Reichen „Wer arm ist, muss früher sterben“,
so änderte sich diese Faustregel durch die Pandemie geringfügig:
„Wer arm ist, muss eher sterben“ heißt es jetzt, weil das
Risiko, an COVID-19 zu sterben, für Wohlhabende und Reiche
sehr viel niedriger ist.
Am härtesten trifft das Virus ausgerechnet die Immun- und
die Finanzschwächsten, also zwei personell weitgehend
identische Bevölkerungsgruppen. Arbeitslose, Abgehängte
und Arme weisen häufiger als die übrigen Gesellschaftsmitglieder
sozial bedingte Vorerkrankungen wie Adipositas (Fettleibigkeit),
Asthma, Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit) oder
COPD (Raucherlunge) auf. Auch katastrophale Arbeitsbedingungen
(z. B. in der Fleischindustrie) sowie beengte und hygienisch
bedenkliche Wohnverhältnisse erhöhen das Risiko für
eine Infektion mit dem neuartigen Coronavirus bzw. für einen
schweren COVID-19-Krankheitsverlauf.
Überwiegend einkommens- und immunschwach waren Obdach-
und Wohnungslose, aber auch andere Bewohner:innen
von Gemeinschaftsunterkünften wie Strafgefangene, Geflüchtete, (süd)osteuropäische Werkvertragsarbeiter:innen
der Subunternehmen deutscher Großschlachtereien bzw.
Fleischfabriken und nichtdeutsche Saisonarbeiter:innen in
der Landwirtschaft, außerdem Migrant:innen ohne gesicherten
Aufenthaltsstatus, Menschen mit Behinderungen,
Pflegebedürftige, Suchtkranke, Prostituierte, Erwerbslose,
Geringverdiener:innen, Kleinstrentner:innen und
Transferleistungsbezieher:innen (Empfänger:innen von Arbeitslosengeld
II, Sozialgeld, Grundsicherung im Alter und bei
Erwerbsminderung sowie Asylbewerberleistungen).
„Wer arm ist, muss eher sterben“ heißt es jetzt, weil das Risiko, an COVID-19 zu sterben, für Wohlhabende und Reiche sehr viel niedriger ist. Am härtesten trifft das Virus ausgerechnet die Immun- und die Finanzschwächsten, also zwei personell weitgehend identische Bevölkerungsgruppen.
Wie nie zuvor nach dem Zweiten Weltkrieg wurde im Gefolge
des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 erkennbar, dass
ein großer Teil der Bevölkerung trotz eines relativ hohen Lebens-
und Sozialstandards sowie entgegen den Beteuerungen
der politisch Verantwortlichen, die Bundesrepublik sei
eine „klassenlose“ Gesellschaft mit gesicherter Wohlständigkeit
all ihrer Mitglieder, nicht einmal kurze Zeit ohne seine
ungeschmälerten Regeleinkünfte auskommt (Butterwegge
2020b, 136 ff.).
Durch wochenlange Kontaktverbote, Ausgangsbeschränkungen
und Einrichtungsschließungen wurde die ohnehin
brüchige Lebensgrundlage der ärmsten Menschen
(Bettler:innen, Pfandsammler:innen und Verkäufer:innen von
Straßenzeitungen) zerstört, weil fehlende Passan t:innen und
die Furcht der verbliebenen davor, sich zu infizieren, manchmal zum Totalausfall der Einnahmen führten, was stärkere
Verelendungstendenzen in diesem Sozialmilieu nach sich
zog. Die finanzielle Belastung von Transferleistungsbezieher:innen, Kleinstrentner:innen und Geflüchteten nahm durch die
Schließung der meisten Lebensmitteltafeln, durch Hamsterkäufe
geleerte Regale mit preiswerten Grundnahrungsmitteln
und steigende Preise bei Frischeprodukten zu.
Die als Reaktion auf die Pandemie behördlich verordnete
Schließung von Geschäften, Gaststätten, Hotels, Clubs, Kinos,
Theatern und anderen Einrichtungen hatte erhebliche
wirtschaftliche Einbußen für die Eigentümer:innen und die
dort Tätigen, aber auch Konkurse und Entlassungen zur Folge.
Einerseits blieben Kurzarbeit für Millionen Beschäftigte,
Insolvenzen kleiner und mittlerer Unternehmen sowie Entlassungen
(z. B. in der Gastronomie, der Touristik und der
Luftfahrtindustrie) nicht aus, andererseits realisierten Großkonzerne
krisenresistenter Branchen (z. B. Lebensmittel-Discounter,
Drogeriemärkte, Versandhandel, Lieferdienste, Digitalwirtschaft
und Pharmaindustrie) in der Corona-Krise sogar
Extraprofite. Ob man ein Reisebüro oder einen Baumarkt besaß,
der während des Lockdowns nicht geschlossen werden
musste, machte einen riesigen Unterschied.
Zu den Hauptprofiteuren des Krisendesasters gehörten einige der profitabelsten Unternehmen mit den reichsten Eigentümer:innen.
Zu den von der Pandemie finanziell stark geschädigten Gruppen gehörten die Beschäftigten im Niedriglohnsektor.
BMW ließ sich für 30.000 Beschäftigte in Kurzarbeit fast die gesamten Lohnkosten (einschließlich der Arbeitgeberbeiträge zur Kranken-, Pflege- und Rentenversicherung) erstatten, schüttete aber im Mai 2020 nicht weniger als 1,64 Mrd. Euro an Dividenden für das Vorjahr aus
Butterwegge, C. (2020a), Die zerrissene Republik. Wirtschaftliche, soziale und
politische Ungleichheit in Deutschland, 2. Aufl., Beltz Juventa.
Butterwegge, C. (2020b), Ungleichheit in der Klassengesellschaft, PapyRossa.
Hövermann, A. und B. Kohlrausch (2020), Soziale Ungleichheit und Einkommenseinbußen
in der Corona-Krise – Befunde einer Erwerbstätigenbefragung,
WSI-Mitteilungen, 73(6), 485-492.
Kohlrausch, B. und A. Zucco (2020), Die Corona-Krise trifft Frauen doppelt.
Weniger Erwerbseinkommen und mehr Sorgearbeit, Wirtschafts- und
Sozialwissenschaftliches Institut (Hrsg.), WSI Policy Brief, Nr. 5.
Kohlrausch, B., A. Zucco und A. Hövermann (2020), Verteilungsbericht
2020. Die Einkommensungleichheit wird durch die Corona-Krise noch
weiter verstärkt, WSI-Report, Nr. 62.
Kruppe, T. und C. Osiander (2020), Kurzarbeit in der Corona-Krise: Wer ist
wie stark betroffen?, IAB-Forum, 30. Juni.
Schröder, C., T. Entringer, J. Goebel, M. M. Grabka, D. Graeber, H. Kröger,
M. Kroh, S. Kühne, S. Liebig, J. Schupp, J. Seebauer und S. Zinn
(2020), Vor dem Covid-19-Virus sind nicht alle Erwerbstätigen gleich,
DIW aktuell, 41.
Schulten, T. (2020), Der Niedriglohnsektor in der Corona-Krise, Aus Politik
und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, 39-40,
16-21.
* Prof. Dr. Christoph Butterwegge
Christoph Butterwegge hat bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt. 2017 kandidierte er für das Amt des Bundespräsidenten. Mit Bremen ist er auf vielfältige Weise verknüpft: 1980 Promotion zum Dr. rer.pol. in der Universität Bremen, von 1987-1989 dort auch wissenschaftlicher Mitarbeiter im Studiengang Weiterbildung. 1990 Habilitation im Fach Politikwissenschaft an der Universität Bremen, Dozententätigkeit in Bremen, 1991bis 1994 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Bremischen Stiftung für Rüstungskonversion und Friedensforschung.
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