Die Schweizer Volksabstimmung vom November 2020 kann getrost als ein Meilenstein gewertet werden beim Versuch, weltweitem verantwortungslosem Handeln großer Unternehmen einen Riegel vorzuschieben. Eine Blaupause für Deutschland ?
von Helmuth Weiss
01.12.2020
Über zwei Vorlagen wurde am 29. November 2020 in der Schweiz in einer Volksabstimmung abgestimmt. Bei beiden Abstimmungen lag die Stimmbeteiligung etwas unter 50 %, ein durchaus normaler Wert in der Schweiz, wo bis zu vier Volksabstimmungen pro Jahr stattfinden.
Zum einen ging es um die Volksinitiative “ Für ein Verbot der Finanzierung von Kriegsmaterialproduzenten”, die von 57,45 % der Teilnehmer abgelehnt wurde. Zum anderen stand die Volksinitiative “Für verantwortungsvolle Unternehmen - zum Schutz von Mensch und Umwelt” zur Abstimmung. Bereits im Oktober 2016 waren dafür die mehr als 100 000 gültigen Unterschriften eingereicht worden. Obwohl 50,73 % der Abstimmenden im November dieser Initiative ihre Zustimmung gaben, wurde sie abgelehnt. Das liegt an einer Besonderheit in der Schweiz, die Volksentscheide unterschiedlich behandelt. Geht es z.B. um eine einfache Gesetzesänderung, so genügt eine einfache Mehrheit der Ja-Stimmen. Bei sog. obligatorischen Referenden muss zusätzlich zur Stimmenmehrheit auch eine Mehrheit der Kantone zustimmen. Ähnlich dem Verfahren mit Wahlmännern in den USA bedeutet das, hat die Mehrheit in einem Kanton mit Nein gestimmt, so wird die “Gesamtstimme” dieses Kantons mit Nein gewertet. So ist es dann möglich, dass kleine Kantone mit wenigen Bewohnern die Entscheidung der Mehrheit blockieren können. Wer denkt da nicht an Victor Orban bei Abstimmungen in der EU ?
Letztere Volksinitiative wollte erreichen, dass Schweizer Grosskonzerne nicht mehr ungeschoren davon kommen, wenn sie im Ausland Menschenrechte verletzen oder die Umwelt zerstören. Es sollte die Möglichkeit geschaffen werden, Schweizer Konzerne deswegen vor einem Schweizer Gericht zur Verantwortung zu ziehen. Auch Tochterunternehmen sollten in die Verantwortung genommen werden. So heißt es im Antrag: “Dabei müssen sie nicht nur ihre eigene, sondern auch die Tätigkeit ihrer Tochterunternehmen, Zulieferer und Geschäftspartner überprüfen. Sie müssen falls nötig Massnahmen ergreifen sowie Bericht erstatten. Zudem sollen Schweizer Unternehmen neu auch für Schäden haften, die von ihnen kontrollierte Unternehmen verursachen. “ Kaum verwunderlich, dass die Mehrheit des Bundesrates dies ablehnte und es bei unverbindlichen Selbstverpflichtungen der Unternehmen belassen will.
Dass eine Mehrheit der Abstimmenden in der Schweiz weltweitem verantwortungslosem Handeln von Unternehmen einen Riegel vorschieben wollte,also massive Einschränkungen privatwirtschaftlichen Handelns fordert, ist äußerst erfreulich und international gesehen einmalig, auch wenn das Vorhaben letztlich scheiterte.
Was heißt das für uns in Deutschland ?
Was den Inhalt der Schweizer Volksinitiative zur Einschränkung privatwirtschaftlichen Handelns anbetrifft so gibt es bei uns seit längerem ähnliche Anstrengungen, die Initiative Lieferkettengesetz.de. Dort heißt es u.a. : “Initiative Lieferkettengesetz ist ein Zusammenschluss zahlreicher Organisationen mit einem gemeinsamen Ziel: Wir treten ein für eine Welt, in der Unternehmen Menschenrechte achten und Umweltzerstörung vermeiden – auch im Ausland. Freiwillig kommen Unternehmen ihrer Verantwortung nicht ausreichend nach. Daher fordern wir ein Lieferkettengesetz! Unternehmen, die Schäden an Mensch und Umwelt in ihren Lieferketten verursachen oder in Kauf nehmen, müssen dafür haften. Skrupellose Geschäftspraktiken dürfen sich nicht länger lohnen.” (Einen guten Überblick gibts hier)
Bis weit in linke Kreise hinein herrscht jedoch Skepsis, ja Ablehnung und Angst vor erweiterten Möglichkeiten der einfachen Bürger, politische Grundsatzentscheidungen zu treffen, Gesetze zu verändern und neue Formen des Zusammenlebens zu etablieren. Ein häufig gehörtes Argument: Die Materie sei zu kompliziert, das könne nur von Experten entschieden werden, die den nötigen Sachverstand mitbringen. Und: Minderheiten hätten keine Chancen mehr gehört zu werden und ihre Interessen durchzusetzen.
Ein Blick auf die Volksentscheide in der Schweiz in den letzten Jahrzehnten kann nicht als Beleg für die Berechtigung dieser Ängste genommen werden, auch wenn einem nicht unbedingt jedes Abstimmungsergebnis gefallen wird. Und schließlich: Will jemand ernsthaft behaupten, dass die Abgeordneten im Deutschen Bundestag Experten seien, wenn sie, wie Befragungen gezeigt haben, manchmal nicht einmal den Text kennen, über den sie abstimmen. Der Einfluss von Lobbyisten vor allem aus der Wirtschaft, das Festhalten an Macht und Privilegien, bestimmt häufig parlamentarische Entscheidungen. Nein, hier soll nicht einem Antiparlamentarismus das Wort geredet werden, es geht darum, die Grenzen der parlamentarischen Demokratie anzuerkennen und nach Wegen zu suchen, sie zu ergänzen und die Demokratisierung der Gesellschaft voranzutreiben.
Wir sollten uns mit den Möglichkeiten, Gefahren und Begrenztheiten von Volksabstimmungen eingehender befassen und sie als ein Mittel gesellschaftlicher Weiterentwicklung und Veränderung begreifen und Möglichkeiten ihrer sinnvollen Umsetzung ausloten. Ähnliches gilt für die verschiedenen Formen von Bürgerbeteiligung in Bürgerräten, deren Möglichkeiten und Grenzen zu diskutieren sind (z.B.der Bürgerrat Belgien, die Allianz für Beteiligung in Baden-Württemberg oder die 149 Empfehlungen des 500-seitigen Bürgergutachtens des Klima-Bürgerrats in Frankreich.
Nur eins sollten wir nicht tun: Volksabstimmungen als Allheilmittel für die Demokratisierung unserer Gesellschaft betrachten. Volksabstimmungen können ein Element einer Demokratie von unten sein, die Demokratisierung der Arbeitswelt und der gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen untereinander wird weiterhin der zentrale Ort für eine Auseinandersetzung um eine gerechtere und humanere Gesellschaft bleiben.
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