von Helmuth Weiss
Die Zunahme rechtsextremer Gewalttaten und das Erstarken des rechten Randes unserer Gesellschaft wird zu Recht immer häufiger als nicht zu unterschätzendes Gefahrenpotential für die zunehmende Entdemokratisierung thematisiert. Dabei wird leicht übersehen, dass wir es hier nur mit der Spitze des Eisbergs zu tun haben, die Wurzeln und das Tragegerüst derartiger Anschauungen in der Mitte unserer Gesellschaft zu finden sind und die vielleicht größere Bedrohung darstellen. Das Buch “Die Extreme Mitte” gibt einige Antworten.
Das Buch ist ein Sammelband mit Texten von Tariq Ali, Wolfgang Streeck, Heiner Flassbeck, Peter Wahl und Rainer Mausfeld. Wie fast immer bei Sammelbänden verschiedener Autoren haben wir es hier also nicht mit einem Gesamtansatz zur Erklärung und Beschreibung des Extremismus der Mitte zu tun, sondern die Autoren nähern sich dem Thema aus verschiedenen Richtungen mit durchaus unterschiedlichen Schwerpunkten. Das schwächt die Qualität des Buches jedoch keineswegs.
Der mit zwei Beiträgen vertretene Tariq Ali, einer der bekanntesten linken Intellektuellen Großbritanniens, sieht im Fall der Mauer 1989 die Geburtsstunde der extremen Mitte. Die bis dahin vertretene kommunistische Idee ging ebenso zu Boden wie die westeuropäische Sozialdemokratie. Die Sowjetunion brach auseinander und die fast überall regierenden oder mitregierenden Sozialdemokraten hatten keine Lösungen zur Verbesserung der Lebensverhältnisse der Mehrheit der Menschen. “Der von seinem Sieg berauschte Kapitalismus, der von keiner
Seite infrage gestellt wurde, hatte es nicht mehr nötig, seine linke Flanke
zu schützen, indem er irgendwelche Reformen zugelassen hätte. Nicht
einmal eine geringfügige Umverteilung des Reichtums zur Verringerung
der Ungleichheiten stand noch auf der Tagesordnung.
Unter diesen Umständen wurde die Sozialdemokratie überflüssig. Alles, was sie ihren traditionellen Unterstützern noch zu bieten hatte,
war Angst oder eine leere ideologische Formel, deren Hauptfunktion
es war, die Armut an jeglichen fortschrittlichen Ideen zu bemänteln:
»dritter Weg«, »konfliktfreie Politik jenseits von links und rechts«”.(S. 10)
In Großbritannien war es Blairs “New Labour”, die als bedeutendster ideologischer Erfolg der Konterrevolution der 80er Jahre bezeichnet werden kann.
“Interessanterweise wurde die gemäßigte Mitte in ihre extremste Version verwandelt, als die kriegstreiberischen grünen Führer in die Regierungskoalition eintraten und Kriege im Ausland und den Neoliberalismus im Inland vorantrieben.”
Bezogen auf Deutschland nimmt Ali vor allem die Grünen ins Visier und weist ihnen eine besondere Verantwortung zu: “Interessanterweise
wurde die gemäßigte Mitte in ihre extremste Version verwandelt, als die
kriegstreiberischen grünen Führer in die Regierungskoalition eintraten
und Kriege im Ausland und den Neoliberalismus im Inland vorantrieben.”
Die von den USA ausgehende Strategie, dem globalen Kapitalismus endgültig zum Durchbruch zu verhelfen, erforderte eine Vielfalt an Maßnahmen. “Die Weltbank fasste die Grundlagen der
neuen Wirtschaftsordnung folgendermaßen zusammen: rücksichtslose
Kürzungen der öffentlichen Ausgaben, Steuer»reformen« (das heißt,
Steuern für die Reichen senken und sie zum Beispiel mit dem Instrument
der Mehrwertsteuer für die Armen erhöhen), den Märkten
(Banken) ermöglichen, die Zinsraten zu bestimmen, Abschaffung von
Kontingenten und Zöllen und damit direkte Förderung ausländischer
Investitionen, systematische Privatisierung aller Staatsunternehmen
und effektive Deregulierung. Fortan würde es keine unantastbaren
Bereiche des öffentlichen Eigentums mehr geben: Der Markt bzw. die
Unternehmen entscheiden alles.” (S. 18)
Um dieser Aushöhlung der Demokratie entgegenzutreten, bedarf es für Ali “einer Massenmobilisierung und Volksversammlungen,
durch die neue Bewegungen und Parteien geschaffen werden. Diese werden
ihrerseits neue Verfassungen brauchen, die eine Radikaldemokratie
stärken. Wir müssen einer neuen Form der Politik den Weg bereiten,
die die extreme Mitte herausfordern und hoffentlich besiegen wird.” (S. 21)
Auch bezüglich der europaweiten Rechtsentwicklung vertritt Ali eine klare Position: “Der Mangel an scharfer Kritik an
der EU sowohl bei der extremen Mitte als auch bei vielen Linken hat
der Rechten eine solche Anziehungskraft verliehen.”
“Der Mangel an scharfer Kritik an der EU sowohl bei der extremen Mitte als auch bei vielen Linken hat der Rechten eine solche Anziehungskraft verliehen.”
Für Wolfgang Streeck, bekannt durch zahlreiche Veröffentlichungen zur Krise des Kapitalismus, ist die extreme Mitte die Klassenbasis eines gescheiterten Konsolidierungsstaats. Die Anforderungen des kapitalistischen Akkumulationsprozesses werden quasi als Naturgesetz betrachtet, eine Rettungsaktion oder Stützungsaktion folgt der nächsten. Die Europäische Union dient dabei sozusagen als Exekutivorgan des Konsolidierungsstaats. Unter Verweis auf die irische Ökonomin Emma Clancy zeigt er, wie diese Versuche der Konsolidierung von oben nach unten durchgesetzt werden. Clancy hat “für fünf
Politikfelder aufgezählt, wie oft die Europäische Kommission in den
acht Jahren von 2011 bis 2018 im Zusammenhang mit der sogenannten »Macroeconomic Imbalance Procedure« Mitgliedstaaten aufgefordert
hat, Renten zu kürzen, Gelder für das Gesundheitssystem zu streichen
oder Teile desselben zu privatisieren, Lohnsteigerungen zu verhindern,
Arbeitnehmerrechte einzuschränken oder Sozialhilfe zu kürzen. 63-mal,
vor allem in den Jahren 2013, 2014 und 2018, wurde Staaten nahegelegt,
deren »makroökonomisches Gleichgewicht« zweifelhaft erschien, weniger
für ihr Gesundheitssystem auszugeben… Insgesamt, für alle fünf untersuchten Politikfelder, wurden 301 Kürzungsempfehlungen
erlassen, im Durchschnitt 38 pro Jahr. Parallel dazu verpflichteten
sich übrigens die der NATO angehörenden Mitgliedstaaten, ihre »Verteidigungs
«-Ausgaben auf 2 % des Sozialprodukts zu erhöhen. “(S. 60).
Heiner Flassbeck, ehemaliger Staatssekretär im Bundesministerium für Finanzen, verweist auf die mageren Erfolge der europäischen Operation unter deutscher Leitung. Eines der Ergebnisse war, dass Griechenland im Elend versank, “dem Rest Europas gelang
es über zehn Jahre nicht, sich aus den Fesseln zu befreien, die ihm
der deutsche Geist und die von Deutschland diktierten Buchstaben
der Verträge auferlegt hatten”. Flassbeck zeigt sich selbstkritisch, was seine vergangenen Positionen anbetrifft: “Ich begann 1997 zu ahnen, was kommen könnte, setzte aber
darauf, schon 1998 mit dem Machtwechsel zu Rot-Grün in Deutschland
als Staatssekretär im Bundesministerium der Finanzen in die nächsten
Lohnrunden eingreifen zu können. Rot-Grün als die »moderne
Mitte«, als Lohndrücker und Deflationstreiber, als Spaltpilz für den
Euro und als diejenige Regierung, der den deutschen Gewerkschaften
das Rückgrat bricht – das, ich muss es zugeben, lag weit jenseits meiner
Vorstellungswelt.” (S. 77)
“Es geht kein Weg daran vorbei: Wer europäisch denkt, muss Deutschland
offen und hart wegen seiner Europolitik von gestern und heute
attackieren.” (S. 79)
“Es geht kein Weg daran vorbei: Wer europäisch denkt, muss Deutschland offen und hart wegen seiner Europolitik von gestern und heute attackieren.”
Peter Wahl, Gründungsmitglied von Attac Deutschland, kritisiert die Fetischisierung Europas durch die extreme Mitte. “Aber das Bekenntnis zur EU ist nicht nur Staatsraison, sondern auch
hegemonial vor allem in den links-liberalen Mittelschichten. Von dort
strahlt es aus, u. a. bis in Teile der Linken. Hegemonial bedeutet, dass
dieses »Europa« auch affektiv in der Identität der extremen Mitte verankert
ist. Es gilt als das Selbstverständliche, das nicht zu Hinterfragende,
das Normale, als Hort der Vernunft und als »moralische Anstalt«, wie
die Schriftstellerin Thea Dorn einmal treffend formulierte. Ja, es gehört
geradezu zum Lifestyle des europäistischen juste milieu. Abweichung von
der europäistischen Norm wird fast schon als unanständig empfunden
und aus dem akzeptierten Diskurs ausgegrenzt.” (S. 82). Dabei ist die EU keine Überwindung des Nationalismus sondern nur seine Reproduktion auf höherer Ebene.
“Der Rückgriff auf die traditionellen Muster von Militarisierung und
Großmachtpolitik zeigt die Rückwärtsgewandtheit der extremen Mitte
EU-Europas. Die großen Probleme des 21. Jahrhunderts können nicht
mit Panzern und Kampfflugzeugen gelöst werden. Die Militarisierung
absorbiert nicht nur finanzielle, intellektuelle und andere Ressourcen,
sondern erhöht ihrerseits die Instabilität des internationalen Systems.
Gerade wegen des Umbruchs der Weltordnung wäre eine Politik notwendig,
die auf Entspannung, Kooperation und politische Konfliktlösung
setzt, statt auf Konfrontation und Aufrüstung.”
Rainer Mausfeld hatte bis zu seiner Emeritierung den Lehrstuhl für Wahrnehmungs- und Kognitionsforschung an der Universität Kiel inne. Sein Thema ist “Die neoliberale Mitte als demokratische Maske einer radikal antidemokratischen Gegenrevolution”. Er beschreibt, wie inhaltlich unbestimmte Begrifflichkeiten für politische Manipulation genutzt werden. “Die psychologische Wirksamkeit politischer Wörter wie »Mitte«,
»Freiheit«, »Gleichheit« oder in jüngerer Zeit »Reformen«, »Stabilität«
oder »Freihandel« beruht darauf, dass wir von Natur aus zu einem Wortaberglauben neigen, also zu der Überzeugung, dass Wörter auch
diejenigen Sachverhalte in der Realität widerspiegeln, die wir assoziativ
mit ihnen verbinden. Zugleich neigen wir dazu, vorgefundene Wörter
naiv zur Organisation unserer Gedanken zu verwenden und somit
kognitiv blind zu sein für den ideologischen Gehalt und die stillschweigenden
Vorannahmen, mit denen sie befrachtet sind. Daher ist es wenig
überraschend, dass auch das Wort »Mitte« von denen, die zur Sicherung
ihrer Herrschaft auf der Klaviatur unseres Geistes spielen, zur politischen
Indoktrination und Manipulation genutzt wird und sich einen festen
Platz im politischen Falschwörterbuch der Geschichte gesichert hat.” (S. 110)
“Die Idee einer Volkssouveränität ist dem Liberalismus zutiefst fremd, da er seit seinen historischen Anfängen durch eine tiefe Verachtung für das Volk gekennzeichnet ist. Elitismus und Sozialdarwinismus gehören wesenhaft zum Liberalismus.”
Ähnliches gilt für die “liberale Demokratie”, wie Mausfeld in einem kurzen Abriss der Geschichte des Liberalismus deutlich macht. “Die Idee einer Volkssouveränität ist dem Liberalismus zutiefst fremd,
da er seit seinen historischen Anfängen durch eine tiefe Verachtung für
das Volk gekennzeichnet ist. Elitismus und Sozialdarwinismus gehören
wesenhaft zum Liberalismus.” (S. 120), “Es ging im Liberalismus stets um den
Schutz einer Bildungs- und Besitzklasse, die vor den Ansprüchen einer
durch die »Mittelmäßigkeit der Vielen« bestimmten Politik geschützt
werden sollte. Im traditionellen Liberalismus verbünden sich Besitz und
Bildung gegen den gemeinsamen Feind einer egalitären Demokratie.” (S. 121)
Auch der Begriff “Demokratie” erfuhr eine Umdeutung und Neudefinition, so dass “Demokratie” “gerade nicht mehr
eine politische Selbstbestimmung des Volkes bedeutet, sondern eine
Fremdbestimmung durch politisch-ökonomische Eliten. Genau dies
leistet die Idee der »repräsentativen Demokratie«. Denn sie suggeriert,
dass dem Freiheitsbedürfnis der Machtunterworfenen Rechnung getragen
wurde und dass die existierenden gesellschaftlichen Verhältnisse
gerade Ausdruck des Willens des Volkes seien. Es lässt sich kaum eine
wirksamere Form der Revolutionsprophylaxe denken als die Illusion
der politischen Selbstbestimmung.” (S. 128)
Mausfeld sieht im Neoliberalismus eine Konterrevolution gegen emanzipatorische Errungenschaften der Aufklärung. “Man würde also das neoliberale Projekt
grundlegend missverstehen, wenn man es als ein lediglich ökonomisches
Projekt betrachtet, durch das die Rentabilität des Kapitals gesteigert und
die Macht der besitzenden Klasse wiederhergestellt werden soll. Vielmehr
zielte das neoliberale Projekt von Beginn an auf eine Uminterpretation und
Umgestaltung aller gesellschaftlichen Verhältnisse, von politischen und
sozialen Institutionen über soziale Beziehungen bis zur Ebene des Individuums
selbst. Alles soll nun in den kapitalistischen Verwertungsprozess
integriert und Imperativen der Konkurrenz und Marktlogik unterworfen
werden. Dieser Anspruch des Neoliberalismus, den Menschen als Ganzen
und in allen seinen sozialen Beziehungen zu kommodifizieren und
»markförmig« zu gestalten und damit gleichsam einen neuen Menschen
zu schaffen, kommt einem totalitären Anspruch gleich.” (S. 141)
"Dieser Anspruch des Neoliberalismus, den Menschen als Ganzen und in allen seinen sozialen Beziehungen zu kommodifizieren und »markförmig« zu gestalten und damit gleichsam einen neuen Menschen zu schaffen, kommt einem totalitären Anspruch gleich.”
Natürlich sind die Beispiele und Argumentationsstränge der oben zitierten Autoren sehr viel umfassender und tiefgreifender als in dieser Rezension wiedergegeben werden kann. Die große Gefahr, die in der Mitte unserer Gesellschaft schlummert, wird eindrücklich skizziert. Es lohnt sich also, diesem Buch die nötige Aufmerksamkeit zu schenken.
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