Traditionspflege in der Bundeswehr


Zur Fragwürdigkeit des selbsternannten NS-Regimegegners Rolf Johannesson

von Helmut Donat*

Am 6. Juli 2023 folgte der Deutsche Bundestag einer Empfehlung des Petitionsausschusses, die bei engagierten Bürgern auf großes Unverständnis stößt, ihren Widerspruch hervorgerufen hat und weiter hervorruft. Es geht dabei um die Traditionspflege in der Bundeswehr, in diesem Fall in der Deutschen Marine.

Ihr Führungspersonal hält es für richtig, den NS-Gerichtsherrn Konteradmiral Rolf Johannesson, der noch am 19. April 1945 mehrere Todesurteile bestätigt hat, mit dem Widerstandskämpfer Korvettenkapitän Alfred Kranzfelder auf eine Stufe zu stellen und als traditionswürdig zu erklären.

In der Aula der Marineschule Mürwik in Flensburg stehen ihre Büsten weiterhin – nur durch eine Tür getrennt – auf Ehrensockeln nebeneinander. Unkritisch folgten das Parlament und die Abgeordneten der Entscheidung der Marineführung, die von Johannesson nicht lassen will. Doch eignet er sich nicht dafür, wie es Vizeadmiral a.D. Wolfgang Nolting glauben machen will, als „Vorbild und Mittler von Werten im Sinne einer deutschen Marinetradition“ geehrt zu werden. Anders ist das Schicksal von Alfred Kranzfelder einzuschätzen. Er gehörte dem Oberkommando der Kriegsmarine an und schloss sich im Herbst 1943 dem Widerstandkreis der Brüder Stauffenberg an. Nach dem Attentat auf Hitler sollte er wichtige Schaltstellen der Marine übernehmen und kontrollieren. Er überbrachte die Nachricht von einem in Berlin umgehenden Gerücht, dass „in der nächsten Woche das Führerhauptquartier in die Luft gesprengt werden“ solle. Kranzfelders Information habe Stauffenberg zu raschem Handeln bewogen. Nach seiner Verhaftung und Verurteilung zum Tode ist der Marineoffizier am 10. August 1944 in Plötzensee erhängt worden. Dass der Streit um die Traditionswürdigkeit Johannessons noch längst nicht an sein Ende gelangt ist, verdeutlicht das soeben von Jakob Knab herausgegebene Buch „‘Helden‘ der Vergangenheit? Zum Elend der Traditionspflege in der Bundeswehr“. Die Autoren, zu denen u.a. die Militärhistoriker Detlef Bald und Wolfram Wette, Jakob Knab selbst und der Verleger des Buches zählen, belegen in ihren Beiträgen, dass nicht nur Johannesson, sondern auch Paul von Hindenburg und der sogenannte „Wüstenfuchs“ Erwin Rommel keineswegs hervor getan haben, um als Leitfiguren der Bundeswehr zu gelten, die, so der Traditionserlass von März 2018, „freiheitlichen und demokratischen Zielsetzungen verpflichtet ist“.

Johannesson (1900-1989) diente u.a. in der Kriegsmarine der NS-Zeit und 1957-1961 als Befehlshaber der Flotte. Er genoss großes Ansehen. 2017 stellte man eine Büste von ihm auf, ein Geschenk der Marine-Offiziers-Vereinigung. Diese zeichnete 2016 auch verantwortlich für den unveränderten Nachdruck der Ausgabe von Johannessons 1989 erschienenen Erinnerungen „Offizier in kritischer Zeit“. Darin erklärte sie ihn zu einem „engagierten, mutigen und unkonventionellen Marineoffizier“. Von „dem Dilemma zwischen Moral und soldatischem Pflichtbewusstsein und Nationalsozialismus“ ist die Rede und dass Johannessson sich in dem Buch in aller „Klarheit und Offenheit“ mit der NS-Zeit auseinandergesetzt habe. Was aber ist dran an so viel Lob und Ehrenbezeugung?

Die Analyse der „Erinnerungen“ bringt Erstaunliches zutage und steht in einem fundamentalen Gegensatz zu den wissenschaftlich drapierten Behauptungen der Marineführung. Vor allem ist bemerkenswert, was Johannesson verschweigt oder beschönigt. Jakob Knab hat es in seinem neuem Buch ausführlich vor Augen geführt, aber Einiges davon sei hier wiedergegeben.

Unwillkürlich fragt man sich, warum die Befürworter Johannessons sich nicht selbst in der Lage zeigen zu erkennen, in welchem Ausmaß dieser die Vergangenheit der deutschen und die seines eigenen Werdegangs auf eine Weise zurechtgestutzt hat, dass sich die Balken biegen.

Offenbar bestand und besteht vor allem bei den Traditionalisten in der Marine der Wunsch, es ähnlich sehen zu wollen.

Sie verkennen, dass seine Geschichtsklitterungen dem Geist des Traditionserlasses von 2018 widersprechen. Oder kommt ihnen sein Entsorgungsumgang mit der Vergangenheit so sehr entgegen, dass sie seine verzerrte Darstellung der Realität begierig aufsaugen? Dem Anschein nach finden sie nichts dabei, dass Johannesson kein Wort verliert über den Holocaust und Vernichtungskrieg, die Wehrmachtsverbrechen und die Brutalität des NS-Regimes. Das alles gibt es bei ihm nicht – oder fällt der Verharmlosung anheim.

Johannesson trat im Juli 1918 als Seekadett in die Kaiserliche Marine ein. Nach dem Krieg absolvierte er eine Banklehre und studierte zugleich an der Berliner Universität. Seine Vorbilder dort waren der Kriegsenthusiast und -prediger Reinhold Seeberg und der Nationalökonom Werner Sombart. Als Vertreter völkischer Gesinnung trugen sie dazu bei, den Nationalsozialisten den Weg zu ebnen. Ebenso bewunderte er Admiral Reinhard Scheer, den Sieger der legendären Skagerrak-Schlacht (1916). Kein Wort darüber, dass Scheer Ende August 1917 die Todesurteile gegen die Matrosen Albin Köbis und Max Reichpietsch wegen deren vermeintlicher Rädelsführerschaft bei einer Rebellion bestätigte – ein Justizmord, was man schon in den 1920er Jahren von den Dächern pfiff. Ebenso nichts dazu, dass er als Chef der deutschen Seekriegsleitung Urheber des verbrecherischen Planes einer Schlacht mit der britischen Kriegsflotte im Herbst 1918 war.

Zu Johannessons Heldengalerie gehörte neben Hindenburg auch Erich Ludendorff. Als dieser an der Universität einen Vortrag hielt und mittendrin zusammenbrach, war Johannesson „tief“ berührt und „empfand warmes Mitgefühl mit dem Mann, auf dessen Schultern gleich Atlas die Erdkugel gelegen hatte“. Nichts sagt er zu ihm und Hindenburg als Militärdiktatoren der dritten Obersten Heeresleitung, in der beide ebenso die Verantwortung für den uneingeschränkten U-Boot-Krieg wie für die Kriegsverbrechen im Frühjahr 1917 trugen, als durch die Frontbegradigung an der Somme unter dem Deckwort „Alberichbewegung“ eine riesige Kulturlandschaft dem Erdboden gleichgemacht, alle Dörfer und Städte systematisch zerstört, die Bäume entwurzelt und etwa 150 000 Bewohner deportiert wurden – eine Verwüstungsorgie, weit über das hinausgehend, was zur Zeit in der Ukraine geschieht. Des Weiteren haben sie durch ihre „Siegfrieden“-Parolen und Annexionsforderungen den Krieg unnötigerweise und bis zur Erschöpfung aller Kräfte geführt, statt sich im Herbst 1917 zu einem Verständigungsfrieden bereit zu erklären. Auch Ludendorffs Beteiligung am Kapp-Lüttwitz-Putsch 1920 erwähnt Johannesson mit keiner Silbe. Seine Methode, die er in seinen „Erinnerungen“ und Reden anwandte, ist es, alles Unrühmliche, Unangenehme und Belastende dem Blick zu entziehen und mit gedanklichen Ausflügen in die Kriegsgeschichte der Antike zu garnieren bzw. zu umhegen. Auf diese Weise legt er dem Leser seine Sichtweise auf Personen oder historische Ereignisse nahe und versucht, ihn zu manipulieren. Über Hermann Göring schreibt er z.B. nur, dass ihm dessen „kleine, kurzen Finger“ nicht gefielen. Nichts über dessen Schandtaten oder Anklage als Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg.

Ähnlich geht er mit Eduard Dietl um, Kommandeur von Gebirgsjägertruppen, den er als Held von Narvik darbietet, dessen Nähe zu Hitler als „Geburtshelfer des Dritten Reiches“ er ebenso weglässt wie dessen Würdigung durch Hitler im Tagesbefehl der Wehrmacht vom 1. Juli 1944: „Als fanatischer Nationalsozialist hat sich Generaloberst Dietl in unwandelbarer Treue und leidenschaftlichem Glauben seit Beginn des Kampfes unserer Bewegung für das Großdeutsche Reich persönlich eingesetzt.“ Erich von Manstein, Befehlshaber von Armeen und Heeresgruppen gerinnt zum genialen Strategen, makellosen Heerführer und Kriegshelden. Von dessen Kriegsverbrechen erfährt der Leser nichts etc. etc.

Seit Herbst 1932 Kommandant des Torpedobootes T 190, begrüßte Johannesson das NS-Regime als „Auferstehung Deutschlands“ – ein Zugeständnis, das ihn nichts kostet, haben es doch viele Militärs auch so gesehen. Mit der Darstellung seiner eigenen Haltung geht er gleichfalls reinwaschend um und vermittelt so von sich das Bild eines „Saubermannes“. Seit 1934 in der Abwehrabteilung des Reichswehrministeriums, übernahm er später die Leitung der Sabotage- und Spionageabwehr der in Salamanca stationierten „Legion Condor“. Für seinen Einsatz bei der Unterstützung der Franco-Putschisten erhielt er das von Hitler gestiftete „Spanienkreuz“ in Silber. Einer der Schwerpunkte der Spionageabwehr war die Verfolgung der in den Internationalen Brigaden gegen Franco kämpfenden Deutschen. Nichts erfährt der Leser über die Vereinbarung mit der spanischen Militärpolizei, die Gefangenen an die Geheime Feldpolizei auszuliefern. Einige von ihnen sind nach grausamen Verhören bereits in Spanien ermordet, die meisten ins Reich verschleppt und in Konzentrationslager gesperrt worden.

Im Zweiten Weltkrieg war Johannesson als Kommandant des Zerstörers „Hermes“ u.a. im Mittelmeer unterwegs. Im Herbst 1942 übernahm er, wie er es nennt, „Sonderaufgaben nach Saloniki“. Nichts berichtet er von dem Elend und der NS-Besatzungsherrschaft in dem Land. Dabei wurden vom Hafen in Saloniki Juden in Viehwaggons in das Vernichtungslager Treblinka transportiert. Stattdessen führt er dem Leser verklärend vor, wie er, der „Krieger auf klassischem Boden“, „mit der griechischen Kultur, mit Landschaft und Kunst als Zerstörungskommandant in lebendige Verbindung gekommen“ sei.

An einem der größten Kriegsverbrechen war Johannesson mindestens indirekt beteiligt. Um die Abriegelung von Leningrad – der Blockade (1941-44) fielen 1,6 bis 2 Millionen Menschen zum Opfer – abzusichern, war er mit seiner Zerstörerflottille dabei, einen britischen Geleitzug mit wichtigem Nachschub anzugreifen. Mehr noch. Er bedauerte es ausdrücklich, dass sein Vorschlag, „mich mit möglichst vielen Zerstörern auf die Murmansk-Geleite anzusetzen“ abgelehnt worden war. Über die Opfer von Leningrad keine Silbe von Johannesson.

Nichts verlautet er darüber, dass und warum er sich 1943 als Marineadjutant Hitlers bewarb, um als hochdekorierter Frontoffizier „frische Luft in die Etappenatmosphäre am Hofe Hitlers“ zu bringen.“ Wie dazu seine Aussage passen soll, er sei seit 1934 „ein Gegner des Nationalsozialismus“ gewesen, ist nicht nachvollziehbar; sie klingt aufgesetzt und unglaubwürdig. Bedenkt man noch, dass er sich in das ihm von Hermann Göring geschenkte Zigarettenetui seine spätere Funktion „Befehlshaber der Marine“ eingravieren ließ, so ist das wohl kaum als „Jugendsünde“ zu betrachten. Oder will man behaupten, dass ein wirklicher Gegner des NS-Regimes wie Alfred Kranzfelder einen solch devotionalen Umgang mit dem Göring-Etui gepflegt hätte?

Nach seiner Kriegsgefangenschaft stellte ihn Martin Niemöller, im Ersten Weltkrieg U-Boot-Kommandant und mit Johannesson durch seinen jüngeren Bruder verschwägert, 1947 als „Privatsekretär“ im Kirchlichen Außenamt der EKD an. Johanneson nutzte die Zeit und die Familienbande, seine alten Marine-Beziehungen zu einem Netzwerk auszubauen. Wie Detlef Bald ermittelte, strickte Johannesson nicht nur an der Legende von der „sauberen Wehrmacht“ mit; er und Niemöller säten im Namen der Kirche und im Geiste christlichen Verzeihens Zweifel an der Verurteilung ehemaliger „Kameraden“ durch alliierte Gerichte. Ihr Ziel dabei war die „Ehre“ der „sauberen Wehrmacht“, ihre Absicht die Entkriminalisierung der Täter. Dabei ist von „Siegerjustiz“ und von „sogenannten Kriegsverurteilten“ die Rede. Johannesson stellte nicht nur die Legalität der Verfahren in Frage, er charakterisierte das „Leiden“ der in Spandau, Landsberg, Werl und Wittlich einsitzenden „einstigen militärischen Vorgesetzten“ als „stellvertretend für uns“ – und machte damit aus Tätern Opfer. Mehr noch.

In seinem Vortrag vom 22. Mai 1951 Rede hob er die Kriegsverbrecher mit folgenden Worte in eine Sphäre überirdischer Existenz: „Ihr Handeln ist zum größten Teil menschlichen Richtern überhaupt nicht zugänglich.“

Im Herbst 1944 wandte sich Johannesson in einer Offizierssitzung gegen einen Vortrag, den Reichsführer SS Heinrich Himmler bei einer Befehlshabertagung in Bad Schachen gehalten und in dem er sich für den Raub von Kindern „rassisch sehr guter Typen“ ausgesprochen hatte. Um „dieses Blut [nicht] drüben zu lassen, damit unsere Gegner fähige Führer und fähige Kommandeure bekommen“, so Himmler weiter, gebe es nur die Alternative: „Entweder wir gewinnen das gute Blut, das wir verwerten können und ordnen es bei uns ein oder, meine Herren – Sie mögen es grausam nennen, aber die Natur ist grausam –, wir vernichten dieses Blut.“ Johannesson will das abgelehnt und dem SS-Führer später mit den Worten widersprochen haben, „dass der nationale Zweck nicht alle Mittel heilige, nämlich nicht Verstöße gegen die göttlichen Gesetze und gegen die Menschenwürde.“ Es fragt sich, hat er nach der von ihm selbst erklärten ethischen Richtschnur oder aus niederen Beweggründen gehandelt?

Im November ernannte Admiral Dönitz Johannesson zum „Seekommandant Elbe- und Wesermündung“. Damit war er zuständig für den Bau des U-Boot-Bunkers „Valentin“ in Bremen-Farge und damit auch für die KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter. Sie wurden nach dem Prinzip „Vernichtung durch Arbeit“ eingesetzt. Für sie galt die von Johannesson in Anspruch genommene „Menschenwürde“ nicht.

Nach seiner eigenen Erinnerung war Johannesson spätestens seit November 1944 klar, dass der Krieg verloren war und nicht mehr lange dauern würde. Daher habe er „unsinnige Befehle, wie die Überschwemmung und Versalzung des Landes durch Öffnung der Deiche, die Zerstörung von Bauernhöfen zum Freimachen des Schussfeldes, das Sprengen der Wellen der in Wesermünde liegenden Schiffe“ nicht ausgeführt. Bei einer Besprechung mit Vertretern des Regierungspräsidenten in Stade sowie „einigen Parteigrößen“, will er seine Befehlsverweigerung mit den Worten begründet haben, „ich sei zum Schutze, nicht zur Zerstörung deutschen Landes angestellt“. Eine merkwürdige Erklärung, wenn man sich vor Augen hält, dass ihn die Versklavung der Zwangsarbeiter im Bunker „Valentin“ nicht interessiert hat.

In der vom NS-Endsiegterror geprägten Schlussphase des Zweiten Weltkrieges bestätigte er am 21. April 1945 in seiner Funktion als militärischer „Gerichtsherr“ die Todesurteile gegen sechs Soldaten und einen Zivilisten. Dabei missachtete er das Gnadengesuch des Marinepastors. Zwei der Militäropfer sind aufgrund von Bagatelldelikten erschossen worden. Die anderen waren widerständige Soldaten und ein Zivilist. Aus Heimatverbundenheit hatten sie den Versuch unternommen, die Insel Helgoland vor der Zerstörung durch die britische Luftwaffe zu retten. „Nach dem Kriege“, so Wolfram Wette, „schwieg Johannesson seine Fehlleistung tot, zeigte keine Reue und schlug stattdessen den hohen Ton des moralischen Wertes der Wahrhaftigkeit an.“

Vor Legenden in der Causa Johannesson bewahrt zu haben, ist vor allem das Verdienst der Historikerin Astrid Friederichs. Mit ihrem Buch „Wir wollten Helgoland retten – Auf den Spuren der Widerstandsgruppe von 1945“ (2010) hat sie einen bis dahin undurchdringlich erscheinenden Schleier gelüftet und sich von Johannessons ins „Eismeer der Geschichte“ (Th. Lessing) geworfenen Nebelkerzen nicht beeindrucken lassen. Stattdessen würdigt sie die Opfer und deren gegen den Krieg, das NS-Regime, die Wehrmachtsführung und ihre Vorgesetzten gerichtete Widerständigkeit. Zudem hat sie einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, den und die Täter beim Namen zu nennen.

Am Ende ihres Buches druckt sie den „Bericht des Konteradmirals a.D. Rolf Johannesson“ vom 16. November 1953 ab zu den von ihm erklärten Gründen, dass die Todesurteile unbedingt zu vollstrecken gewesen seien. Darin heißt es: „Für die Entscheidung über eine Bestätigung des Todesurteils war der Gesichtspunkt ausschlaggebend, dass eine Nichtbestätigung ein Anreiz für Teile der Festungsbesatzung sein würde, sich in weitere Verschwörungen einzulassen, um damit den als gefährlich geltenden Posten auf der Insel zu verlassen und das Kriegsende in einem Gefängnis auf dem Festland abzuwarten.“ Wie fragwürdig, selbstgerecht – und der eigenen Entlastung dienend – seine Erklärung ist, führt Johannesson uns in seinen „Erinnerungen“ selbst vor Augen. Die Niederlage hielt er schon Monate zuvor für unausweichlich.

Zudem unterstellt Johannesson den Verurteilten selbst noch 1953, sie hätten ihre Taten begangen, um ins Gefängnis zu kommen und so den Gefahren des Krieges zu entgehen. Damit erklärt er sie nicht zuletzt im Sinne der NS-Justiz zu „Drückebergern“.

Die „Verschwörung“ von Georg E. Braun, Karl Fnouka, Erich Friedrichs, Kurt Pester und Martin Wachtel war eine Verzweiflungstat, zugleich aber auch von einer zukunftsweisenden Einsicht geprägt, die dem Krieg und dem NS-Regime den Rücken zukehrte und einen neuen Anfang wagte. Von einer solchen Haltung war Johannesson meilenweit entfernt. Indem er sie dem Tod überantwortete, hielt er sich selbst im Sinne des NS-Systems schadlos.

„Jeden Tag“, behauptet er, „warteten wir auf ein Signal aus Berlin, dass Schluss gemacht werde. Es gab aber nur Durchhalteparolen.“ Folgt man seiner Schilderung, so rechnete Johannesson seit etwa Mitte April 1945 täglich mit dem Einstellen der Kampfhandlungen bzw. einer Kapitulation. Erneut erweist sich die von ihm erinnerte Stimmungslage als nicht glaubwürdig, sondern als vorgeführt und geschönt. Just in jenen Tagen, als er die wegen „Kriegsverrat“ zum Tod verurteilten Angeklagten und Vorwürfe bestätigte, will er frei von jedweder „Durchhalteparole“ gewesen sein?

Am Morgen des 21. April 1945 bestätigte Johannesson zwei weitere, von ihm später ebenfalls verschwiegene Todesurteile, die noch am selben Tag vollstreckt worden sind. Betroffen waren der Matrose Wilhelm Reinhardt und der Heizer und Maschinist Joachim Edel. Reinhardt, 28 Jahre alt und jung verheiratet, gehörte der 11. Vorpostenflottille „Flakjäger 23“ an. Er soll sich auf die Geburt seines ersten Kindes sehr gefreut haben. J. Edel diente in der 21. Minensuchflottille auf „M 323“, war Jg. 1921 und wie Reinhardt am 6. April 1945 verhaftet worden. Die Gründe, weshalb sie sich vor einem Kriegsgericht verantworten mussten, sind unklar. Offenbar ging es um banale Straftaten. Auskunft dazu gibt Georg Meier, ein Kamerad von „Flakjäger 23“, in einem Brief an die Tochter von Wilhelm Reinhardt vom 23. August 1966. Darin heißt es: „Zu Ihrem Vater hatte ich ein freundschaftliches Verhältnis … Er hatte eine Schrotflinte und ging immer auf Entenjagd. Vom Borddienst war er dann immer befreit … Ihr Vater hat keine Schuld auf sich geladen. Das Urteil und sein Tod ist einer der sinnlosesten Tode dieses Krieges.“

Auch in diesen Fällen hat Rolf Johannesson gegen die von ihm im Nachhinein für sich reklamierten „göttlichen Gesetze und die Menschenwürde“ verstoßen. Er hat zwei im blühenden Leben stehende Angehörige der Marine töten lassen – und über seine Verantwortung dafür nie ein Wort verloren. Wie hatte doch Georg Meier über Wilhelm Reinhardt geschrieben: „Er war ein sehr guter Mensch.“

Dem Fass den Boden schlägt die Erklärung von Fregattenkapitän und Historiker Guntram Schulze-Wegner in seinem ebenfalls von der MOZ 2021 herausgegebenen Buch „Kurs Marine – Tradition, Werte, Selbstverständnis“ aus. 1999-2013 Redakteur im Pabel-Moewig Verlag und u.a. verantwortlich für die kriegsverherrlichende und den Mythos von der „sauberen Wehrmacht“ propagierende Heftreihe „Der Landser“, behauptet er: „Die Schuld, … in seinem Befehlsbereich kurz vor Kriegsende fünf Todesurteile gegen Widerständler bestätigt zu haben“, sei Johannesson zur „moralischen Pflicht“ geworden, sich „für eine bessere Marine in einem besseren Deutschland“ einzusetzen. Papperlapapp. Hat er doch seine Tat nie bereut, sondern gerechtfertigt.

Folgt man Schulze-Wegeners Interpretation, so war Johannesson ein „Widerständler“, der andere Widerstandskämpfer hinrichten ließ. Ein Vorbild? Nein, danke!

Die Frage nach der Traditionswürdigkeit einer Persönlichkeit in der Bundeswehr ist eine ernste Angelegenheit. Johannesson weiter zu ehren, hieße den Bock zum Gärtner machen und jene zur Leitfigur zu erheben, die selbst noch in den letzten Tagen des Krieges der Mordpraxis des NS-Regimes gefolgt sind. Zu einem ähnlichen Ergebnis ist auch Fregattenkapitän a.D. Dieter Hartwig, einstmals ein enger Mitarbeiter und Vertrauter von Johannesson, in seiner Schrift über ihn gelangt. Doch auch das focht die Marineführung bislang nicht an.

Die Richtlinien des Bundesverteidigungsministeriums zum „Traditionsverständnis und zur -pflege“ von Ende März 2018 bestimmen, dass die „Wehrmacht als Institution nicht traditionswürdig“ ist. In seinen „Erinnerungen“ hat Johannesson die Verbrechen der Wehrmacht sämtlich und bewusst verschwiegen bzw. unter den Teppich gekehrt – eine Missachtung der o.g. Richtschnur. Dass Offiziere nach wie vor vehement auf der Büste von Johannesson in der Aula der Marineschule Mürwik beharren, ist ein öffentliches Ärgernis, ja ein Skandal. Denn es ist nichts weniger als ein Verstoß gegen die Grundwerte unserer freiheitlichen Demokratie. Gleiches gilt für das Festhalten an Paul von Hindenburg, dem Totengräber der Weimarer Demokratie, und dem NS-Kriegshelden Erwin Rommel. Auch ihr militärisches und politisches Wirken stehen nicht im Einklang mit dem Traditionserlass von 2018. Hindenburg ernannte Hitler zum Reichskanzler und kollaborierte mit den Nazis. Dennoch gibt es in Munster noch immer eine Hindenburg-Kaserne; der Namensgeber gilt als traditionswürdig, angeblich auch als sinnstiftend sowie identitätsbildend. Offenbar sterben die „Hindenburg-Deutschen“ nie aus.

Entgegen der langlebigen Legende stand Rommel, wie Wolfram Wette darlegt, nicht im Widerstand gegen das NS-System. Wohl aber war er an Kriegsverbrechen, so in Italien, beteiligt, blieb Hitler bis zum Schluss treu ergeben und eignet sich daher nicht als Vorbild im Sinne der Werteorientierung unseres Grundgesetzes. Statt die Kritik an Johannesson, Hindenburg und Rommel einfach weiter wegzuschieben und sich auf fragwürdige „Neubewertungen“ zu berufen, sollte die Bundeswehr den Traditionserlass endlich in die Tat umsetzen. Die Büste von R. Johannesson ist zu entfernen. Will man weiter an ihr festhalten, so doch zumindest mit dem Hinweis, dass Johannesson über Persönlichkeiten wie Alfred Kranzfelder im September 1951 geurteilt hat: „Für Hochverrat, für Landesverrat, für Eidbrecher ist kein Platz in der Wehrmacht.“ Ein Leser der „Flensburger Tageblattes“ spricht in der Ausgabe vom 18. August 2023 von einer „moralischen Zumutung“. Und: Das Bild der Marine in der Öffentlichkeit sei „blamabel“. Recht hat er.

(Der Beitrag erschien bereits - in leicht gekürzter Fassung - in der Jungen Welt vom 1. September 2023)



* Helmut Donat

Jg. 1947, Bankkaufmann, Lehrer und zeitweise Lehrbeauftragter der Universität Bremen, heute als Historiker, Verleger und Publizist tätig; Mitbegründer des Arbeitskreises Historische Friedensforschung, Organisator diverser Ausstellungen sowie von Kulturtagen und -veranstaltungen, zahlreiche Veröffentlichungen zur Geschichte des deutschen Pazifismus und Militarismus, zum „Historikerstreit“, zur „Wehrmachtsausstellung“, zum Kontinuitätsproblem der deutschen Geschichte, zur Kriegsschuldfrage von 1914 und dem deutschen Annexionismus im Ersten Weltkrieg, zu den Ursachen und Folgen des Nationalsozialismus sowie zum Völkermord an den Armeniern; für sein verlegerisches Engagement und publizistisches Wirken mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Carl von Ossietzky-Preis der Stadt Oldenburg. Lebt im Bremer Stadtteil Borgfeld.

Literatur

Helden der Vergangenheit
Jakob Knab (Hrsg.): „Helden“ der Vergangenheit? Zum Elend der Traditionspflege in der Bundeswehr – Rolf Johannesson, Paul von Hindenburg, Erwin Rommel, Mit Beiträgen von Detlef Bald, Heinrich Böll, Helmut Donat, Hermann Fricke, Jakob Knab und Wolfram Wette
(= Schriftenreihe Geschichte unf Frieden, Bd. 51), Donat Verlag, 19.80 € ISBN 978-3-949116-18-6

Astrid Friederichs: Wir wollten Helgoland retten – Auf den Spuren der Widerstandsgruppe von 1945, 5. Auflage 2018, Museum Helgoland

Dieter Hartwig: Rolf Johannesson (1900-1989) – ein belasteter Admiral und die umstrittene Traditionspflege der Bundeswehr, Kiel 2022 (Eigenverlag)